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CS.2 «Printemps des Poètes» und «Morley Literature Festival»

Einleitung


Plakat Printemps des
Poètes 2013
© Printemps des Poètes
Die vorliegende Case Study diskutiert zwei Literaturfestivals, die sich in ihrem Format und ihrer Zielsetzung, nämlich Literatur an einen möglichst grossen Adressat_innenkreis zu vermitteln, ähneln. Beide Festivals, können als exemplarisch für zahlreiche Projekte anderer Sparten betrachtet werden, die auf eine Diversifizierung ihrer Besucher_innen abzielen. Entlang der neun Fragen der Publikation werden daher vornehmlich die Adressierungsstrategien und Formen der Zusammenarbeit mit verschiedenen Interessensgruppen exemplarisch im Vergleich besprochen. Dabei werden weder alle neun Fragen in ihrer Reihenfolge, noch gleichermassen ausführlich behandelt. Vielmehr konzentriert sich die Analyse auf Fragen, die eine Reflexion der zur Anwendung kommenden Vermittlungsstrategien und -konzepte der Festivalinitiator_innen erlauben.

Printemps des Poètes, Frankreich

 Le Printemps des Poètes, der «Frühling der Dichter», ist ein Poesiefestival in Frankreich, das seit 1999 einmal jährlich im März stattfindet. Mittlerweile bündelt es bis zu 8.000 Veranstaltungen in ganz Frankreich, die sich mit dem Thema Poesie befassen. Das Festival wird von der gleichnamigen Dachorganisation realisiert, die ganzjährig auf verschiedenen Ebenen tätig ist, mit dem Ziel die Position der Lyrik in Frankreich zu stärken. Die Aktivitäten konzentrieren sich auf die Verbreitung von Informationen über Poesie durch den Aufbau von Netzwerken, die Beratung von Akteur_innen und die Unterstützung in der Umsetzung von Projekten und Aktionen. Vornehmlich agiert die Initiative als Katalysator für die Realisierung von Projekten in verschiedenen Kontexten: Schule, Stadt, Bibliotheken und öffentlicher Raum. Die Internetseite fungiert dabei gleichermassen als Medium zur Kommunikation der Aktivitäten von «Le Printemps des Poètes» und zur Distribution von Materialien zur Poesie, weshalb sie von den Organisator_innen als «Ressourcenzentrum für Poesie» bezeichnet wird. Die Seite stellt, neben Dossiers zur Poesie, Buchvorschlägen und Veranstaltungstipps, folgende Datenbanken zur Verfügung:

Morley Literatur-Festival, England


© Morley Literature Festival

Das  Morley Literature Festival ist eines von zahlreichen  Literaturfestivals in England und findet seit 2005 in Morley, einem südlichen Bezirk von Leeds statt. Es ist ein ein- bis zweiwöchiges Festival im Oktober, das im Gegensatz zu «Le Printemps des Poètes» nicht eine spezifische Literaturgattung oder ein Thema, sondern nach eigenen Aussagen «Bücher, Lesen und Schreiben zelebriert.»1 Das Festival vereint in seinem Festivalprogramm Buchpräsentationen, Autor_innenlesungen, Schreibworkshops, Musik- und Familienaktivitäten. Darüber hinaus werden im Rahmen des Festivals auch Projekte und Kooperationen initiiert.

Diskussion

Wer macht Kulturvermittlung?
Wer hat das Festival mit welcher Absicht ins Leben gerufen?
Warum (keine) Kulturvermittlung?
In welche Legitimationen schreibt sich das Festival ein?

«Le Printemps des Poètes» wurde in Anlehnung an das französische Musikfestival  Fête de la Musique» von  Jack Lang, einem Mitbegründer der «Fête de la Musique», Emmanuel Hoog und André Velter initiiert. Alle drei Akteure waren sowohl kulturpolitisch aktiv als auch selbst in der Kulturproduktion tätig. Emmanuel Hoog arbeitete für das Kulturministerium, hat Theater geleitet und die Regierung in Kultur- und Medienfragen beraten. Bevor Hoog im Jahr 2011 Präsident der französischen Nachrichtenagentur (Agence-France-Presse, AFP) wurde, hat er das Medienarchiv «Institut National de l’Audiovisuel» (INA) geleitet. Jack Lang bekleidete jahrelang Ministerämter in den Ressorts Kultur, Kommunikation und Bildung und war enger Berater François Mitterrands. André Velter wiederum ist ein französischer Dichter, der mit improvisierten Liedern und «polyphoner Lyrik» experimentiert. In Zusammenarbeit mit France Culture, dem französischen Kulturradio, hat er unter anderem  Poésie sur Parole initiiert, eine reguläre Veranstaltung, die zeitgenössische Lyrik mit Tanz, Instrumentalisierung oder Aufführungen verbindet und damit Lyrik als ein «performatives, aktives und orales Medium» vermittelt. Somit waren die Initiatoren des Festivals einflussreiche Politiker und Kulturschaffende, die das Festival von Beginn an kulturpolitisch verankerten und dem Vorhaben einen entsprechend hohen Status in der Kulturlandschaft verliehen. Seit 2001 wird «Le Printemps des Poètes» von  Jean-Pierre Siméon geleitet, einem Dichter, Romancier, Dramatiker und Kritiker. Er war zudem jahrelang Professor für moderne Literatur an dem Institut für Lehrer_innenbildung an der Universität Clermont-Ferrand und hat zahlreiche Gedichtbände, Romane, Kinderbücher und Theaterstücke verfasst.2 Auch er war kulturpolitisch als Berater für den Bereich Kunst und Kultur des Ministeriums für nationale Bildung tätig. Damit vereint Siméon eine kulturpolitische, bildungspolitische und künstlerische Expertise. «Le Printemps des Poètes» ist somit fest in der  Kultur- und Bildungspolitik Frankreichs verankert. Es wird entsprechend sowohl vom  Ministère de la Culture et de la Communication, dem  Centre national du Livre, dem  Ministère de l’Education, sowie dem  Regionalrat Île-de-France getragen und ist den dort zum Tragen kommenden Diskursen verpflichtet. Die aktuelle bildungspolitische Debatte in Frankreich ist geprägt von einer Neukonzeptionierung der Schule  Refondons l’École de la République3, die unter vier Gesichtspunkten eine schrittweise Transformation der aktuellen Lehr- und Lernpraxis anstrebt: «Schulerfolg für alle», «die Schüler_innen in den Mittelpunkt der Reform», «geschultes und zertifiziertes Personal in Schulen» und ein «gerechtes und effektives System». Im Zuge dieser vier Grundsätze wird die Kulturvermittlung, hier formuliert als «kulturelle Bildung» in Zusammenhang mit «künstlerischer und wissenschaftlicher Bildung für alle»4, als Methode für die Umsetzung einer Schule der Zukunft benannt.5 Kulturelle Bildung wird damit als eine Praxis entworfen, die zunächst zur Verbesserung von  persönlicher Leistungsfähigkeit führt, die «unterstützt, Erfolge fördert und zum Selbstwertgefühl beiträgt»6 und schliesslich auch einen Beitrag zur Chancengleichheit leisten soll. Auch die kulturpolitische Ausrichtung Frankreichs setzt in der aktuellen Legislaturperiode 2012–2014 auf «kulturelle Demokratisierung» und will den Zugang zu künstlerischen Werken und künstlerischen und kulturellen Praktiken sowie die Anerkennung einer Vielzahl von künstlerischen Ausdrucksformen unterstützen. Dabei wird die Rolle der «Volksbildung» (éducation publique) und ihre positive Einflussnahme auf lokale Kontexte und sozialen Wandel hervorgehoben und auf das Grundrecht auf Bildung und das 1998 verabschiedete  Gesetz zur Bekämpfung von Ausgrenzung ( Text 3.FV) verwiesen. Gemäss seiner bildungs- und kulturpolitischen Ausrichtung folgt «Le Printemps des Poètes» einerseits einer Legitimation von Kunst und Kultur durch die ihr zugeschriebenen positiven Rückwirkungen auf  soziale und bildungspolitische Entwicklungen und schreibt sich andererseits argumentativ in die  Inklusionsdebatte. Diese wendet sich gegen die Tatsache, dass grosse Teile der Gesellschaft von Bildung, Kultur und Politik ausgeschlossen sind, und wird geleitet von ethischen Grundsätzen und Demokratisierungsgedanken im Sinne einer gerechteren Gesellschaft. Kulturvermittlung oder kulturelle Bildung soll einen Betrag dazu leisten, bislang ausgeschlossene Gruppen an gesellschaftlichen Prozessen, insbesondere an Kunst und Kultur der Mehrheitsgesellschaft, teilhaben zu lassen. Dabei vernachlässigt die Idee der Inklusion durch die Schaffung von Angeboten für bislang «exkludierte» Gruppen, dass es die herrschenden Bedingungen sind, die zu diesen Ausschlüssen führen.7

Das «Morley Literaturfestival» wird geleitet von Jenny Harris, einer  freischaffenden Kreativarbeiterin und Musikerin , die für den Leeds City Council als Musikbeauftragte tätig war, wo sie unter anderem das  FuseLeeds Festival für zeitgenössische Musik initiierte. Sie ist Mitentwicklerin von  imove, einem Kulturprogramm für Yorkshire 2012 und von «the hub», einer Vereinigung für Kulturarbeiter_innen und Personen, die in der Kreativwirtschaft tätig sind, die auch das Musik und Literatur verbindende Festival  Phrased & Confused konzipierte. Gemäss ihrem auf den Internetseiten ausgewiesenen besonderem Interesse an «inklusiven Kunst­praktiken» koordiniert Harris auch das Programm für das Bildungsnetzwerk «Arts & Disability» von Leeds und ist damit strukturell mit den kultur- und bildungspolitischen Anliegen der Stadt verknüpft.

Das Literaturfestival wird von verschiedenen Geldgeber_innen unterstützt. Die Stadt Leeds finanziert das Festival anteilig im Rahmen des Programms  Leeds Inspired, welches anlässlich der Olympischen Spiele 2012 ins Leben gerufen wurde und Kunst, Sport und Kulturveranstaltungen fördert, um in Leeds ein vielfältiges Kulturangebot bereitzustellen. Ein Anliegen dieses Programms ist es, gemäss den Ausführungen auf der Website, neben grossen jährlichen Events auch Community- und DIY(Do-It-Yourself)-Projekte zu fördern. Damit wird der Versuch unternommen, eher politisch aktivistischen Kreisen zugewiesene Praktiken wie DIY in die Förderlogiken zu integrieren. Das Morley Literaturfestival wird zudem vom  Arts Council England dem  Bezirk Morley und der  Grafschaft Yorkshire sowie von einigen Unternehmen wie einem  Shoppingcenter, der  Blackwell Buchhandelskette und der lokalen Presse unterstützt. Entsprechend lehnt sich das Projekt in seinen Finanzierungsstrukturen an  Public-Private-Partnerships an, eine Form von teils öffentlicher, teils privater Förderung, die in England unter der «New Labour»-Regierung von Tony Blair massive Verbreitung gefunden hat, und die seit der Jahrtausendwende auch zunehmend im deutschsprachigen Raum Einzug hält. Das Anliegen dieser Mischfinanzierungen ist es, die leeren Haushaltskassen durch die Beteiligung von privaten Investor_innen zu entlasten. Im Gegenzug erhalten die Investor_innen Mitspracherechte an den mitfinanzierten Projekten. Typische in diesen Konstellationen umgesetzte Projekte sind der Bau von Schulen oder Strassen, aber auch die Finanzierung von Museen und Kulturprojekten. Auch in der Schweiz gewinnt der noch relativ wenig verbreitete Ansatz zunehmend an Bedeutung.8 Die Kritik an dieser Finanzierungsform bezieht sich vor allem auf die erhöhte Einflussnahme der privaten Geldgeber_innen auf politische Entscheidungen und damit die Gefahr einer zunehmenden Marktorientierung von öffentlichen Investitionen. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die nur kurzfristige Entlastung der Haushalte. Durch Umschichtungen der Investitionen auf langjährige Partnerschaften beteiligen sich die öffentlichen Haushalte überwiegend durch Mieten, die sie den Investor_innen über einen vorher vereinbarten Zeitraum zahlen. Am Ende wirkt sich dieses Finanzierungsmodell oft auch ökonomisch zu Gunsten der Investor_innen aus und stellt langfristig keine tatsächliche Einsparung dar.9 Im Fall des Morley Festivals lässt sich nicht ableiten, in welcher Weise die Auswahl der Aktivitäten und die Konzeption des Festivals auch von den privaten Geldgeber_innen beinflusst sind. Zu verzeichnen ist aber eine stark am Buchmarkt orientierte und damit von den angenommenen Interessen der  Adressat_innen ausgehende Programmation. So scheint auch die Wahl der teilnehmenden Autor_innen und des Schirmherren auf ihren jeweiligen Marktwerten zu basieren. Schirmherr des Festivals ist Gervase Phinn, ein Bestsellerautor, der unter anderem zahlreiche Kinderbücher geschrieben hat.10 Phinn unterrichtet zudem Literatur an englischen Universitäten und war von 2006 bis 2012 Präsident der Schulbibliotheksvereinigung  School Library Association. Zu seinen fachlichen Veröffentlichungen gehören Texte wie «Young Readers and Their Books, Suggestions and Strategies for Using Texts in the Literacy Hour»11, in denen sich Phinn für neue Formate der Literaturvermittlung in der Schule einsetzt. Phinn agiert damit nicht nur als Werbefigur für das Festival, indem er ein grosses Publikumsinteresse verspricht, sondern steht auch inhaltlich für die Vermittlung von Literatur.

Mit der Konzentration ihrer Ressourcen auf einen bestimmten Zeitpunkt durch das Format des Festivals schreiben sich beide Literaturfestivals zudem in den Trend der «Festivalisierung»12 ein. Während «Le Printemps des Poètes» damit auf die Sichtbarmachung der ganzjährigen Aktivitäten der Vereinigung abzielt und das Festival als  Marketingtool in eigener Sache nutzt, agiert das Festival in Morley stärker im Sinnes des lokalen Marketings, um die Attraktivität des Ortes zu steigern und die lokale Bevölkerung zu involvieren.

Wie wird vermittelt?

Mit dem Fokus auf die Zusammenarbeit mit der Schule

Gemäss den aktuellen Leitlinien der Schulreform betont «Le Printemps des Poètes» den komplementären Charakter kultureller Bildung in der Schule und empfiehlt deren Berücksichtigung im Lehrplan. Es strebt eine strukturelle Verschiebung in der Vermittlung von Poesie an und wendet sich explizit gegen aktuelle Formate und  Methoden der Vermittlung von  Poesie in der Schule, die sich überwiegend auf das  Rezitieren von Gedichten sowie ihre inhaltlichen und formalen Analysen konzentrieren. Damit verweist «Le Printemps des Poètes» auf die  reformative Funktion von Kulturvermittlung auf das System Schule, lässt aber mögliche Rückkopplungen von der Schule auf die Kulturvermittlung selbst unberücksichtigt. Es fordert eine stärkere Hinwendung zum  Selbsterproben und zur Projektarbeit als Alternative zur mehrheitlich praktizierten  Vermittlung kunsthistorischer Fakten.13 Die Hinwendung zum praktischen Tun in Bildungszusammenhängen findet, den aktuellen Lerntheorien folgend, weite Verbreitung. Sie verspricht eine grössere Involviertheit der Lernenden, freie Entfaltung und somit höhere Lernerfolge. Sie führt aber mitunter dazu, dass die unterschiedlichen Voraussetzungen der Lernenden vernachlässigt und somit bestehende Ungleichheiten verstärkt werden. Die Widersprüche, die sich hieraus ergeben, werden in  Text 4.FV ausführlich diskutiert.

In der Zusammenarbeit agiert «Le Printemps des Poètes» nicht unmittelbar, in dem es beispielsweise Kooperationen zwischen Künstler_innen oder Kulturvermittler_innen mit Schulen ins Leben ruft, sondern fungiert als Mittler_in zwischen den verschiedenen Akteur_innen und bietet eine Plattform zur Vernetzung durch die Bereitstellung von Informationen, Kontakten und Möglichkeiten zur Weiterbildung. Darüber hinaus hat die Vereinigung Anreizsysteme entwickelt, um Akteur_innen des Feldes zu eigenen Aktivitäten in der Vermittlung und Verbreitung von Poesie anzuregen. Dabei setzt «Le Printemps des Poètes» auf die Bildung von Strukturen und die langfristige Implementierung literarischer Aktivitäten in den Schulalltag. Dies erfolgt (anders als beim Morley Festival) nicht durch konkrete Angebote für Schulen, sondern vornehmlich durch das Label  École en Poésie und wird in Zusammenarbeit mit der nationalen Organisation für die Kooperation mit Schulen ( OCCE) umgesetzt, das Schulen für ihr Engagement in der Poesie auszeichnet. Um die Auszeichnung «École en Poèsie» zu erhalten, müssen Schulen mindestens fünf von fünfzehn Aktivitäten umsetzen, die in zwei Kriterienstränge eingeteilt sind. Bei «Poesie im Zentrum der Klasse» zählen Aktivitäten wie die Teilnahme am Dichter_innenfestival oder die Initiierung einer Korrespondenz mit einer Dichterin oder einem Dichter, aber auch die Förderung von ausländischer Poesie in der Originalsprache und ihrer Übersetzung zu den möglichen Aktivitäten. Die anderen Kriterien zielen auf die Sichtbarkeit der Dichtung in der Schule ab, zum Beispiel durch die Benennung von Klassenräumen nach Dichter_innen oder der Publikation eines Artikels zur Poesie in der Schulzeitung. Im Gegenzug erhalten die Schulen gesonderte Unterstützung bei der Umsetzung ihrer Aktivitäten in Form von Beratungsleistungen, Weiterbildungen für die beteiligten Lehrenden und die Unterstützung der Kommunikation über die Seiten von «Le Printemps des Poètes» sowie der OCCE. In ähnlicher Weise werden von der Organisation auch ganze Städte oder Dörfer ausgezeichnet als «Village» oder «Ville en Poésie». Auch hier wiederum gelten  fünfzehn Kriterien, von denen je nach Gemeindegrösse jeweils zwischen drei und fünf erfüllt sein müssen. Im Jahr 2012 wurden 22 Gemeinden, davon dreizehn Dörfer und neun Städte, mit der Auszeichnung versehen. Diese kann für die Stadt im Sinne des Stadtmarketings, in dem die  Faktoren Kultur ebenso wie Kreativwirtschaft eine zunehmend bedeutende Rolle spielen, genutzt werden. Kultur als «weicher» Standortfaktor ist längst zu einer ökonomischen Grösse geworden, die nicht nur die Attraktivität für den Tourismus steigert, sondern sich auch mittelbar auf die Ansiedlung von Unternehmen und Wirtschaft auswirkt.14 Die Auszeichnung verspricht den Städten und Gemeinden eine privilegierte Kommunikation ihrer Aktivitäten im Rahmen des Festivals im März und damit eine Sichtbarkeit als kulturell engagierte Region. Zudem wirken sich solche Auszeichnungen in der Regel positiv auf die Akquise von Subventionen aus.

Auch das Morley Literaturfestival adressiert Schulen im Rahmen seiner Aktivitäten. Im Jahr 2009 beispielsweise wurde die Zusammenarbeit von Autor_innen mit allen Schulen in Morley als erweiterte Ebene des Festivals vom Programm  Find your talent unterstützt. «Find your talent» war ein überregionales Programm in England, das vom Arts Council finanziert wurde und zum Ziel hatte, Schüler_innen verstärkt in verschiedene Ebenen der Kulturproduktion einzubeziehen. Sie sollten nicht wie üblicherweise als Empfänger_innen von Kulturbotschaften adressiert werden, sondern mit einem Wissen ausgestattet werden, das ihnen Eingriffe in die  Programmation und Produktion von Kulturangeboten ermöglichte. Gleichzeitig sollten die Schüler_innen im Rahmen des Programms möglichst regelmässig mit vielfältigen Genres der Künste durch Projekte, Workshops und andere Angebote in Berührung kommen, um – wie bereits der Name impliziert – eigene Talente zu entdecken. Dass  Begabung selbst ein auf bürgerlichen Werten basierendes Konstrukt ist, wurde dabei nicht hinterfragt. Für das Morley Literaturfestival subventionierte das Programm die Zusammenarbeit zwischen lokalen Schulen und den Festivalautor_innen. Als  Aktionsforschung angelegt arbeiteten hier fünfzehn lokale Schulen mit Autor_innen zusammen. Ziel war es, gemeinsam mit den Schüler_innen und Lehrenden Möglichkeiten einer besseren Einbettung der Literatur in der Schule zu entwickeln. Ähnlich wie bei «Le Printems des Poètes» wurde hier ein fächerübergreifendes Vorgehen angestrebt, das es ermöglichte, Poesie beispielsweise auch in den Mathematikunterricht zu integrieren. Die Ergebnisse der Kooperation sind nicht auf den Internetseiten dokumentiert, aber laut Harris führten die Projekte zum Aufbau von dauerhaften und persönlichen Kontakten mit den Schulen vor Ort.15 Ein anderes im Rahmen des «Find your talent»-Kontexts umgesetztes Projekt war die Entwicklung von Literaturangeboten mit einer Bibliothekarin in Zusammenarbeit mit Schüler_innen. Gemeinsam mit der Initiative «Reader Development» wurden  Literaturtage in Bibliotheken entwickelt, die im Sinne der Leseförderung die Attraktivität von Bibliotheken für Jugendliche in Leeds und speziell in Morley steigern sollten. In beiden Fällen wurden Schüler_innen als Partner_innen in die Entwicklung von Literaturangeboten eingebunden. Ihr Wissen wurde für die Weiterentwicklung von Literaturvermittlung als relevant anerkannt, was auf ein  ko-konstruktivistisches Lehr- und Lernverständnis schliessen lässt und einer  transformatorischen Funktion in Hinblick auf die Angebotsebene der beteiligten Institutionen verpflichtet ist. Über die Resultate dieser Zusammenarbeiten lassen sich allerdings aufgrund ihrer fehlenden Dokumentiertheit keine Aussagen treffen (siehe Auslassungen). Im Jahr 2012 wiederum war das Angebot für Schulen eher einem  reproduktiven Diskurs zuzuordnen. Zum einen wurden grosse Veranstaltungen mit Autor_innen an verschiedenen Orten in Morley initiiert, darunter eine Lesung in der Stadthalle, zu der über 500 Schüler_innen kamen16, zum anderen konnten Autor_innen für Workshops in Schulen gebucht werden. Dies ist vor allem auf die  Kürzungen im Kulturetat zurückzuführen, die im Zuge von Englands Regierungswechsel im Jahr 2010 auch die Ressourcen für das «Find your talent»-Programm beinhalteten.

Zusammenfassend verdeutlichen diese Beispiele der Zusammenarbeit mit Schulen einen kategorialen Unterschied im Vorgehen der beiden Festivals. Während Morley auch inhaltlich Einflussnahme auf die Entwicklungen der einzelnen Vorhaben nimmt, bietet «Le Printemps des Poètes» eine Plattform für inhaltliche Anregungen, ohne aber Verantwortung für die Umsetzung und Qualität der einzelnen Aktivitäten zu übernehmen. «Le Printemps des Poètes» reagiert mit seinen Bestrebungen auf die Tatsache, dass Lyrik von nur einem Prozent der Bevölkerung in Franzkreich regelmässig rezipiert wird17, und setzt verstärkt auf den Aufbau von Netzwerken, die Kommunikationskampagne und die Initiierung von Aus- und Weiterbildungsangeboten für ein interessiertes Fachpublikum (Lehrer_innen, Bibliothekar_innen, Organisator_innen und auch Amateurdichter_innen), während Morley seine Aktiviäten stark lokal verortet.

Wie wird vermittelt?

Welche Formate und Methoden kommen in den vermittlerischen Aktivitäten des Festivals zur Anwendung?
Und was wird vermittelt?

«Le Printemps des Poètes» legt jährlich einen thematischen Schwerpunkt fest, der die verschiedenen Aktionsstränge miteinander verknüpft. Das Spektrum der letzten Jahre umfasste offene Themen wie «Poesie und Chanson» im Jahr 2001 oder «Hoffnung» im Jahr 2004 und verknüpft seit 2007 Themen mit Dichter_innen wie zum Beispiel «Liebesgedichte» unter dem Titel «Lettera Amorosa, le poème d'amour» als Hommage an den Dichter René Char.18 In diesem Zusammenhang werden auch thematische Auftragsarbeiten an Autor_innen vergeben. «Le Printemps des Poètes» verfolgt damit eine zweigleisige Strategie: Mit dem Ziel, das  Image der Dichtung zu verändern und die Lyrik als ein künstlerisch eigenständiges, zeitgenössisches Genre zu positionieren und zu beleben, will die Organisation einerseits die Produktionsbedingungen zeitgenössischer Autor_innen stärken und versucht gleichzeitig, die  Rezeption von Poesie zu erhöhen. In der Verfolgung beider Anliegen zeigt sich eine deutliche Hierarchisierung der Vermittlung im Verhältnis zur Kunstproduktion, verweist aber auch auf verschiedene Verständnisse von Vermittlung. Die daraus resultierenden Spannungsverhältnisse werden ausführlich in  Text 1.FV diskutiert. Als Beispiel lassen sich die spartenübergreifenden Bestrebungen von «Le Printemps des Poètes» aufführen. Im Jahr 2011 wurde gemeinsam mit der Stadt Bezons ein Kurzfilmfestival initiiert. Das Festival «Courts métrages Ciné poème» soll, so der Festivalleiter Jean Pierre Siméon, durch die Verknüpfung von Film und Poesie ein breiteres Publikum ansprechen.19


Poster Kurzfilmfestival
Cine Poème 2013
© Printemps des Poètes
Die Filme, die im Rahmen dieses Festivals gezeigt werden, befassen sich mit einem Gedicht, sind Dichter_innen gewidmet oder folgen formal einer «dichterischen Lesart», die durch die Attribute «Suggestivität, Dichte und Intensität» in den Auswahlkriterien des Filmfestivals beschrieben wird. Die Ausschreibung wendet sich damit einerseits an Filmemacher_innen, die zunächst als Produzent_innen angesprochen werden, aber nachgeordnet auch als  Adressierte, indem sie aufgefordert werden, sich mit Poesie zu befassen. Auf der anderen Seite resultieren aus diesen Aktivitäten auch Vermittlungsprojekte. So hat die Mediathek Bezons im Zuge des Festivals eine Zusammenarbeit mit einem Jugendzentrum initiiert, aus der ein Animationsfilm als Trailer für das Kurzfilmfestival hervorging Dieser Trailer ist aber weder auf der Website von «Le Printemps des Poètes» zu finden, noch auf der des Kurzfilmfestivals. Er wird lediglich auf den Seiten der  Mediathek der Stadt Bezons in Zusammenhang mit dem Festival präsentiert.

Trailer Ciné Poème

Indem «Le Printemps des Poètes» das Projekt unerwähnt lässt, verdeutlicht es dessen nachgeordneten  Stellenwert. Das zeigt sich auch in der Verknüpfung mit Musik, die die Festivalorganisator_innen ebenfalls als Möglichkeit betrachten, weitere Adressat_innenkreise zu erreichen. Doch liegt der Fokus mit einem  Wettbewerb für gesungene Gedichte und einem  Kompositionswettbewerb auf der Produktion. Auch in der Selbstdarstellung des Festivals und seinem Anliegen, «zu informieren, zu beraten, und weiterzubilden, Projekte zu begleiten sowie die Arbeit zeitgenössischer Autor_innen, Verleger_innen und Künstler_innen zu unterstützen»20, bleibt die Vermittlung unerwähnt.

Mit der Konzentration der Aktivitäten auf die Distribution von Literatur in verschiedenen Kontexten verweist das Festival damit auf ein  Verständnis von Vermittlung, das bereits in der Begegnung mit der Kunst eine vermittlerische Dimension impliziert. Die leitende Vorannahme des Programms basiert damit auf der Vermutung, dass die Kenntnis von und das In-Kontakt-Treten mit Poesie unweigerlich zu einer stärkeren Rezeption dieses Genres führen. Damit folgen die Aktivitäten inhaltlich dem Anliegen, eine  grössere Leser_innenschaft aufzubauen, während Werk und Form zeitgenössischer Lyrik unhinterfragt bleiben. Die Ursache für ihre mangelnde Rezeption wird in der Unkenntnis der Rezipient_innen oder ihrer Vermittler_innen verortet, gegen die «Le Printemps des Poètes» durch entsprechende Massnahmen (Weiterbildung und Anreizsysteme) Abhilfe schaffen will. Die Möglichkeit, die Lyrik und ihre gesellschaftliche Randstellung selbst in den Blick der vermittlerischen Aktivitäten zu rücken und beispielsweise der Frage nachzugehen, warum diese Literaturgattunng nur von wenigen rezipiert wird, bleibt dabei ungenutzt.

Was wird vermittelt und für wen?

Welchen Gegenstand der Vermittlung fokussiert das Festival und wen adressiert es mit seinen Aktivitäten?

Das Morley Literaturfestival fokussiert sein Festivalprogramm auf die Einbindung erfolgreicher Autor_innen, wie zum Besipiel Barbara Taylor Bradford oder der Science-Fiction-Autor Ian Banks21, und nutzt diese auch als Referenz in der Selbstdarstellung. Damit verhält sich das Programm in Hinblick auf den Buchmarkt  affirmativ und tendiert zum  Marketing. Dies ist aber, gemäss der Festivalleiterin, darin begründet, dass die bekannten Autor_innen im Rahmen ihrer PR-Touren gebucht werden können und folglich nicht vom Festivalbudget getragen werden. Sie ermöglichen vielmehr, dass auch junge und weniger bekannte Autor_innen zum Festival eingeladen werden können. Laut Harris ist dieses Vorgehen vor allem den finanziellen Rahmenbedingungen des Festivals geschuldet. Es ist mit rund 30.000 GBP ein kleines Festival, das in starkem Masse auf  ehrenamtliches Engagement der Mitarbeitenden angewiesen ist. Der enge finanzielle Rahmen hat starken Einfluss auf die Möglichkeiten der Programmation. Mit dem vergleichsweise geringen Status und einem wenig prominenten Durchführungsort (Morley) legitimiert sich das Festival damit in besonderem Masse über Besucher_innenzahlen. Ziel ist es laut Harris, mit dem Festival ein qualitativ anspruchsvolles Kulturangebot für die lokale Bevölkerung von Morley anzubieten. Die lokale Bevölkerung besteht überwiegend aus der  weissen Arbeiterklasse und der Stadtteil hatte in der Vergangenheit immer wieder mit Imageproblemen zu kämpfen. Aktuell zeichnet sich durch den Zuzug von ethnischen Minoritäten, Künstler_innen und Studierenden ein Wandel ab. Zentrales Anliegen des Festivals ist nach Harris, die Entwicklungen des Ortes in seiner historischen Dimension und unter Einbeziehung aktueller Veränderungen gemeinsam mit der Bevölkerung zu reflektieren.22 Die inhaltliche Ausrichtung der Festivalaktivitäten und Vermittlungsangebote von Morley, von Lesungen über Workshops für kreatives Schreiben bis hin zu künstlerischen Interventionen im Stadtraum, lassen aber nur wenig auf die ihnen zugrunde liegenden Auswahlkriterien schliessen.


Screenshot der Website des Morley Festivals vom November 2012

Das  Themenspektrum reicht von Stadtführungen über ein literarisches Mittagessen mit Tim Ewart, dem Berichterstatter des Königshauses, bis hin zu einem Volksliederabend. Eine thematische Verknüpfung der Aktivitäten ist bei den Lesungen oder der Auswahl der Autor_innen nicht zu erkennen. Hingegen vermitteln die Workshops und Projekte eine Konzentration auf die Beschäftigung mit dem Ort Morley, die auf die bereits dargestellten Erläuterungen der Festivalleiterin verweisen. Darüber hinaus scheint das Festival auf das Prinzip «Für jede_n etwas» zu setzten, wobei sich die Programmation an angenommenen Besucher_inneninteressen vorab festgelegter Zielgruppen orientiert. Darauf verweist auch die Sortierung des Festivalprogramms auf der Website entlang der Veranstaltungsformate «Autorengespräch, Workshop oder Diskussion», der adressierten Personengruppen «Kinder und Familien» und der Sparten «Musik, Kunst, Sport». Dies ermöglicht eine schnelle interessengesteuerte Orientierung im Festivalangebot und folgt einer klaren Adressierung nach gängigen  Zielgruppendefinitionen.

Wer macht Kulturvermittlung?

Von wem werden die vermittlerischen Aktivitäten umgesetzt? Mit wem erfolgt die Zusammenarbeit innerhalb der Projekte?
Wie wird vermittelt? Anand konkreter Projektbeispiele aus den Festivals werden Ansätze und Methoden der vermittlerischen Aktivitäten auf der strukturellen und der konkreten Projektebene diskutiert.
Wie wirkt Kulturvermittlung? In welche Vermittlungsdiskurse schreiben sich diese Aktivitäten ein?

Im Jahr 2012 wurden die künstlerischen Interventionen des Morley Festivals von «Leeds inspired» (siehe oben) unter dem 2012 gesetzten Themenschwerpunkt  Playful (spielerisch) unterstützt. Mit einer öffentlichen Ausschreibung wendete sich das Festival an Künstler_innen, um «transdisziplinäre, künstlerische Projekte zu ermöglichen, die lokale Öffentlichkeiten in einer phantasievollen und unerwarteten Weise involvierenThematisch sollten sich die Aktionen auf «die Geschichte(n) von Morley – Fakt oder Fiktion?» beziehen. Ausgehend von «Feral-Nowledge» einer textbasierten Auftragsarbeit des Video- und Audiokünstlers  Paul Rooney, die faktische und fiktive Momente der Geschichte Morleys miteinander verknüpfte, sollten vier kleinere Arbeiten von in Leeds lebenden visuellen Künstler_innen gefördert werden.

Die Künstler_innen wurden eingeladen, Strassenschilder für die Fussgänger_innenzone von Morley zu entwickeln und mit ihnen auf das Fakt/Fiktions-Thema Bezug zu nehmen. Die Schilder sollten dann von Anwohner_innen gesucht und in einer Strassenkarte eingetragen werden. Die Arbeiten wurden mit jeweils 200 GBP dotiert, weitere 200 GBP standen für Materialkosten zur Verfügung. Auch vor dem Hintergrund der eng definierten Rahmenbedingungen und eines Konzepts, in das sich die Künstler_innen einzufügen hatten, erscheint die Budgetierung für eine Ideenentwicklung und -umsetzung unzureichend. Gemäss dem Arts Council in England sollte die  Bezahlung von Künstler_innen und Kulturarbeiter_innen mindestens bei einem Tagessatz von 175 GBP liegen. Mit 200 GBP für Idee und Realisierung bleibt der Tagessatz vermutlich weit unter dem anvisierten Minimum. Zunächst scheinen die Festivalverantwortlichen in der Einbeziehung von visuellen Künstler_innen in ein Literaturfestival ein Potential zu vermuten, das gemäss der formulierten Ausschreibungskriterien «innovative und unerwartete Begegnungen ermöglichen»23 soll. Jedoch werden dafür weder die notwendigen Mittel noch die künstlerischen Handlungsräume zur Verfügung gestellt. Dennoch haben sich fünf lokale Künstler_innen24 unter dem Titel  Signs of the Times an der Ausschreibung beteiligt und alternative Strassenschilder und Beschilderungen für den Stadtraum entwickelt. Mit dem Wissen um die Zuspitzung der Produktionsbedingungen von Künstler_innen in England scheint eine solche Strategie darauf zu setzen, dass der symbolische Wert der Teilnahme an dem Festival die monetäre Entlohnung kompensiert. Dies folgt den Umgangsweisen mit  ehrenamtlicher Arbeit im kulturellen Sektor und den ihnen zugrunde liegenden  Ökonomien.


© Poetry Takeaway

Das Festival integriert aber auch freie Vermittlungskollektive in seinem Programm. So wurde im Jahr 2011 das Projekt  Poetry Takeaway Teil des Festivalprogramms. «Poetry Takeaway» greift die Idee von Takeaway-Restaurants auf und überträgt diese auf die Literatur. Auch ästhetisch lehnt sich das Projekt an einen «Burger Van» an und agiert von einem mobilen Bauwagen aus, auf öffentlichen Plätzen oder im Rahmen von Festivals. Die Gruppe von mehreren Autor_innen bietet Passant_innen die Möglichkeit, ein Gedicht on demand zu bestellen. Damit wendet sich das Projekt implizit gegen die weit verbreitete Vorstellung des Dichtens als kontemplativer Tätigkeit, die überwiegend unter Ausschluss der Öffentlichkeit passiert. Stattdessen forciert es den kreativen Akt durch einen selbst auferlegten Zeitdruck, indem das Gedicht in weniger als zehn Minuten ausgeliefert sein muss. Auch sprachlich lehnt sich die Selbstbeschreibung der «Poetry Takeway» -Akteur_innen an das kulinarische Vorbild an, indem sich die Autor_innen als «Poetry Chefs» bezeichnen und ihre Gedichte in einer Box oder wie Burger eingewickelt an den Kunden überreichen. Die Gruppe spielt damit auch auf die zunehmende Dienstleistungsorientierung der Kunst an. Indem sie den Akt der «Bestellung, Produktion und Auslieferung der Kunst» performativ umsetzt, kritisiert sie die herrschenden Produktionsbedingungen und wendet sie gleichzeitig in positiver Überzeichnung für die eigenen Aktivitäten an:

 How it works:
1. Queue up to speak to one of our fully trained Poetry Chefs.
2. You’ll be allocated to a Poetry Chef, who’ll discuss your order with you in order to ascertain its style and content etc. No knowledge of poetry is required – a few details about you, what you’re up to, what you like and what you’re into, will suffice. Alternatively, if you want a poem similar in style to your favourite by [insert not too obscure poet], our dedicated Poetry Chefs can successfully operate from your instruction.
3. Your Poetry Chef will retire to the kitchen to cook up your bespoke order, leaving you free to soak up the atmosphere.
4. Within ten minutes or less, you’ll be greeted by your Poetry Chef who’ll perform your poem to you. And hand you a written copy, either open or wrapped in our beautifully-designed takeaway boxes.»

Die  dekonstruktive Funktion des Projekts zeigt sich auch in den Formulierungen der eigenen Tätigkeiten, die komplett aus dem literarischen Zusammenhang gehoben werden und durch die Implementierung in einen neuen Kontext Mechanismen der Kunstproduktion sichtbar machen. Das Dichten wird damit stärker als ein Handwerk vermittelt, womit der Autor_innenmythos ein wenig entzaubert wird.

Auch «Le Printemps des Poètes» integriert Vermittlungsaktivitäten freier Gruppen oder Vermittler_innen in seinem Programm. Unter dem Label  Sélection Printemps des Poètes werden ausgewählte Projektvorhaben, Poesieausstellungen, Festivals, Gruppen und Akteur_innen der Lyrikszene vorgestellt und verlinkt, die dem qualitativen Anspruch der Vereinigung entsprechen. Eines der in dieser Auswahl vorgestellten Projekte, dass dem «Poetry Takeaway» ähnlich ist, ist der  Poèmaton.


Poèmaton, © Isabelle Paquet

Dabei handelt es sich um einen umgearbeiteten Fotoautomaten, der Passant_innen dazu einlädt, sich hineinzusetzen und gegen eine Gebühr ein Gedicht anzuhören. Anstelle eines Fotos erhalten die Teilnehmer_innen am Ende einen Ausdruck und Informationen über die Autor_in des Gedichts. Im Gegensatz zu dem «Poetry Takeaway», das die direkte Begegnung mit den Autor_innen ermöglicht und im Sinne der Dekonstruktion von Poesie und ihren Zuschreibungen agiert, inszeniert der «Poématon» die Rezeption von Gedichten an einem unerwarteten Ort und verbleibt bei der  Vermittlung des Werks und damit im Gegensatz zum «Poetry Takeaway» im  reproduktiven Diskurs.

Über das Festivalprogramm hinaus initiiert das Morley Literaturfestival zudem langfristige Partnerschaften. So wurde das Projekt «Home is where the art is», erstmals im Jahr 2011 in Zusammenarbeit mit dem «Picture Lending Scheme» der Leeds Art Gallery ins Leben gerufen. Das  Picture Lending Scheme ist eine Art Bibliothek für Kunst, die im Jahr 1961 eröffnet wurde, um der Bevölkerung den Kontakt zu originalen Kunstwerken in ihren privaten Wohnungen oder Häusern zu ermöglichen. Für das Festival wurden über den  Festivalblog sechs Haushalte aus Morley gesucht, die bereit waren, Werke aus der Leeds Art Gallery auszuleihen. Voraussetzung für die Teilnahme war, sich mit dem ausgewählten Werk zu Hause vom Fotografen Paul Floyd Blake ablichten zu lassen und sich mit dem Dichter Andrew MacMillan über die Gründe für die Wahl des Werkes zu unterhalten, die dieser als Grundlage für ein Gedicht nutzte. Fotografien und Gedichte wurden während des Festivalzeitraums in der Leeds Art Gallery ausgestellt. Als Dank für die Teilnahme am Projekt wurden die Leihnehmer_innen zur, wie es im Blog der Festivalseiten heisst, «VIP»-Vernissage der Ausstellung eingeladen.

Die Ansprache der Teilnehmenden nutzte damit die im Kunstfeld herrschenden Ausschlussmechanismen als Anreizsystem und stattete die Teilnehmenden für einen beschränkten Zeitraum mit Zugangsprivilegien aus. Es ist anzunehmen, dass sich Anwohner_innen um die Teilnahme am Projekt beworben haben, die das damit verbundene  symbolische Kapital für sich zu erkennen und zu nutzen vermochten. Damit wendete sich das Projekt implizit gegen die Intentionen des «Lending Art Scheme», nämlich die Auseinandersetzung mit den Werken für eine möglichst heterogene Öffentlichkeit zu ermöglichen. Die Mechanismen wurden zudem verstärkt durch die im Projekt angebotene Möglichkeit, unter dem Motto «Tea with the Curator» einen der Kurator_innen aus der Leeds Art Gallery nach Hause einzuladen, um in einen Austausch über das ausgeliehene Werk zu treten. Die Anlage enthält das Potential, Fragen zur Institution und ihren Sammlungsstrategien und der Repräsentationen von Kunst in privaten Räumen zu bearbeiten. In der konkreten Umsetzung setzt das Projekt aber auf die punktuelle Begegnung zwischen Künstler_innen, Kurator_innen und Adressierten. Die Auseinandersetzung beschränkt sich auf ein Fotoshooting und auf die Erzählung einer Geschichte, die zum Ausgangspunkt für ein Gedicht wird. Die künstlerische Bearbeitung verbleibt bei den teilnehmenden Künstler_innen – ein Austausch über die  künstlerischen Prozesse findet ebenfalls nicht statt. Die Anwohner_innen sind zwar involviert, bleiben aber auf ihre Rolle als Rezipient_innen von Kunst verwiesen und werden so für das Festival zu Repräsentant_innen von Kulturnutzer_innen. Durch die Ansprache von bereits interessierten Teilnehmer_innen und die Bestätigung herrschender Logiken des Systems vermag das Projekt sein dekonstruktives Potential nicht zu nutzen, sondern verbleibt im  affirmativen Diskurs. Auch eine Auseinandersetzung mit Fragen zu Repräsentationmechanismen  Repräsentationmechanismen von Kunstakteur_innen in Fotografie oder Literatur bleibt aus. Dabei verweisen die Fotografien formell auf die Darstellungen von Sammler_innen vor ihren Werken. Sie bestätigen zudem die Annahme, dass es sich bei den Haushalten vor allem um gut situierte Angehörige der  Mehrheitsgesellschaft handelt. Die  Resultate des Projekts – Fotografien und Gedichte – sind online dokumentiert allerdings nur über die  Blogseite des Festivals zu finden.


Screenshot «Home is where the Art is»; Gedicht: Andrew McMillan, Foto: Paul Floyd Blake

Ein weiteres Projekt, das 2011 initiiert wurde, ist  Now and then, ein Blog, der die Geschichte und Gegenwart Morleys durch Text, Sound und Bilder in Zusammenarbeit mit der Bevölkerung darstellen sollte. Das Projekt wurde geleitet von der Drehbuch- und Theaterautorin Emma Adams, die Anwohner_innen einlud, mit eigenen Geschichten, aber auch eigenen Text- und Bildbeiträgen Morley als Stadtteil zu dokumentieren. Das Projekt bündelte sowohl Schreibwerkstätten während des Festivals, funktionert aber gleichermassen bis heute als Blog oder wachsendes Archiv, an dem jede_r Interessierte partizipieren kann. Während die Beschreibung des Projekts eine Zusammenarbeit mit verschiedenen Bevölkerungsgruppen aus Morley suggeriert, auf der Grundlage von persönlichen Erlebnissen, Lebenswegen und Erinnerungen von Einwohner_innen Morleys Geschichte umzuschreiben, wird auf der Internetseite lediglich eine öffentliche Aktion in der Markthalle von Morley dokumentiert, in der die Künstlerin die Geschichten von Passant_innen im Vorbeigehen sammelt, die sie für den Blog verschriftlichte. Die Möglichkeit, sich mit der Geschichtsschreibung von Morley zu befassen und diese in Zusammenarbeit mit verschiedenen Bevölkerungsgruppen umzuschreiben, blieb ungenutzt. Stattdessen wurde ein weiterer Fokus auf eine Arbeitsgruppe für Menschen mit Beeinträchtigunen «People in Action» gelegt, die wöchentlich zusammenkommt um in einem Gemeindezentrum Freizeitbeschäftigungen nachzugehen: Stricken, Bingo spielen, Musik machen. Die Eindrücke eines Besuchs bei der Gruppe wurden in einem kleinen  Video dokumentiert, welches durch die mangelnde Beschreibung des Projekts und dessen fehlende Einbettung in den Projektkontext weder inhaltliche Aussagen über das Projekt beinhaltet noch Einblicke in den Projektverlauf gewährt. Die in dem Video gezeigten Personen werden über ihre Tätigkeiten in der Gruppe und ihre Aktivitäten in Morley befragt. Fragen, die sich an dieses Vorgehen knüpfen, betreffen die Auswahl und die Gewichtung gerade dieser Gruppe. Vor allem, weil es sich bei der «People in Action Group» um eine marginalisierte und damit für das Kunstfeld symbolisch bedeutsame Personengruppe handelt, deren Teilnahme für die Institution – in diesem Fall das Morley Literature Festival – einen grossen Nutzen in Bezug auf die eigenen  Legitimierungsstrategien verspricht. Die Problematik spitzt sich zu, da es bis auf ein kurzes  Video der Künstlerin auf dem Marktplatz, das einzige Video des «Now & Then» Projekts ist. Diese  Auslassungen begründet Harris mit einem wenig erprobten Vorgehen. Die Voraussetzungen und die Ressourcen für die qualitative Umsetzung eines partizipativ angelegten Projekts wie diesem waren nicht gegeben. Entsprechend konnte das Projekt aus der Perspektive der Festivalleitung die Erwartungen, zum Beispiel an gemeinsam verfasste Texte zwischen Anwohner_innen und Autor_innen, nicht erfüllen. An dieser Stelle zeigt sich, dass eine reflexive Form der Dokumentation, die in diesem Fall auch das Scheitern beschreiben und das Projekt stärker als Experiment darstellen würde, dem Projektverlauf selbst angemessen wäre. Im Gegensatz dazu verleitet die aktuelle Darstellung des Projekts dazu, auf ein wenig relfexives Vorgehen der Initiator_innen zu schliessen, und erkennt damit auch das Lernpotential von Projekten, die nicht gelingen, ab. An dieser Stelle wäre ein  Verzicht auf die Darstellung des Projektes ratsamer und würde auch die Beteiligten vor dem Ausgestelltsein schützen.

Besuch bei der Gruppe «People in Action»

Video der Künstlerin Jenny Harris

Auslassungen

Reflexivität in Bezug auf die eigene Arbeit: Trotz der langjährigen Arbeit fehlt in beiden dargestellten Projekten eine Einschätzung der bisherigen Entwicklungen. Aussagen über bereits erreichte Ziele, Anpassungen des Vorgehens im Laufe der Jahre, Verschiebungen in der Umsetzung oder auch mögliche Fehltritte würden es erlauben, die Entwicklung der Festivals nachzuvollziehen und konkrete Aussagen über tatsächliche Vorhaben ermöglichen.

Dokumentation der einzelnen Projekte: Auf unterschiedlichen, in der Projektdiskussion dargestellten Ebenen zeigen sich in beiden Festivals Diskrepanzen zwischen der Kommunikation der Anliegen der Festivalinitiator_innen und der wenig detaillierten Dokumentation bereits stattgefundener Aktivitäten. Dies hat zur Folge, dass nur wenig Rückschlüsse auf umgesetzte Projektvorhaben und ihre Prozessverläufe möglich sind und sich damit die qualitative Einschätzung des Projekts auf das konzeptionelle Vorgehen und die Erwartungen der Initiator_innen konzentriert. Damit bleibt es offen, ob und in welcher Weise die anvisierten Vorhaben umgesetzt wurden und werden.

Lehr- und Lernkonzepte, Beteiligungsgrade: Die fehlende Dokumentation der bisherigen Aktivitäten produziert die grösste Leerstelle bei den Fragen der zur Anwendung kommenden Lehr- und Lernkonzepte und der Beteiligungsgrade der Teilnehmenden. Diese lassen sich lediglich aus den eher kryptischen Beschreibungen von Projekten und ihren Anliegen ableiten. Auf der konkreten Projektebene lassen sich folglich nur die Voraussetzungen und Anliegen an ein Projekt, sofern diese dargestellt wurden, analysieren.

Fazit

Trotz der zum Teil ausführlichen Dokumentationen beider Festivals, erwies sich eine qualitative Einordnung der Vermittlung als grösste Leerstelle der Analyse. Diese kann, wie in  Text 8.FV dargestellt wird, nur dann erfolgen, wenn Struktur, Prozess und Ergebnis eines Projekts in Relation zu dessen Zielsetzungen betrachtet werden können. Dafür müssten die Projektinitiator_innen ihre Ziele, tatsächlichen Projektverläufe und Resultate transparent machen oder die Projektverläufe selbst ins Verhältnis zu den formulierten Erwartungen setzen.  Projektdarstellungen und Dokumentationen, die das leisten sind in der Vermittlung rar. Die ist zum einen auf die knappen Ressourcen, die der Vermittlungsarbeit zur Verfügung stehen zurückzuführen. Hinzu kommen Interessenskonflikte, die sich aus den verschiedenen Ansprüchen an Vermittlung speisen. So dienen Dokumentationen vor allem der  Legitimation der eigenen Arbeit, womit sie dazu tendieren Erfolgsgeschichten zu erzählen. Die Reflektion und Sichtbarmachung von Scheitern, problematischen Aspekten oder schwierigen Projektverläufen wären für ein Lernen wichtig, sind aber mit dem Risiko finanzieller Einbussen verbunden oder stehen im Widerspruch zu den Auftraggeber_innen. Entsprechend neigen Selbstdarstellungen von Projekten dazu, wie am Beispiel der beiden Festivals deutlich wurde, den dominanten Repräsentationsweisen  Repräsentationsweisen der Vermittlung zu folgen und tragen damit, wenn auch nicht immer gewollt, zum Erhalt des Status quo bei.

Materialien

Für die Analyse der Projekte standen folgende Materialien zur Verfügung:

«Le Printemps des Poètes», Frankreich

Morley Literaturfestival, England

1 In der Selbstbeschreibung auf den Internetseiten des Festivals heisst es: «Morley Literature Festival in Leeds is an annual week-long festival in October celebrating books, reading and writing». → http://www.morleyliteraturefestival.co.uk/about [17.11.2012].

2 siehe Bibliografie Jean-Pierre Siméon: → http://www.printempsdespoetes.com/index.php?url=poetheque/poetes_fiche.php&cle=3 [18.11.2012].

3 Ein ausführliches Papier zur aktuellen Schulreform in Frankreich findet sich auf den Internetseiten des Bildungsministeriums: → http://www.refondonslecole.gouv.fr/la-demarche/rapport-de-la-concertation [10.11.2012].

4 Im Original: «une éducation culturelle, artistique et scientifique pour tous».

5 Refondons l’école de la République, Rapport de la concertation, S.40; siehe Materialpool MCS0108.pdf.

6 Vgl. ebenda.

7 Vgl. hierzu das kulturpolitische Konzept Frankreichs der Legislaturperiode 2012–2014; → http://www.culturecommunication.gouv.fr/Politiques-ministerielles/Developpement-culturel/Education-populaire/Conventions-pluriannuelles-d-objectifs-2012-2014 [10.11.2012].

8 Vgl. dazu die Seite des Vereins Public Private Partnerships in der Schweiz: → http://www.ppp-schweiz.ch/de [10.11.2012].

9 Vgl. Sack 2003.

10 Phinn 1999; Phinn 2001.

11 Phinn 2000.

12 Walter Siebel und Harmut Häußermann haben den Begriff der Festivalisierung bereits 1993 mit ihrem Artikel «Festivalisierung der Stadtpolitik» geprägt. Festivalisierung meint die räumliche, zeitliche und finanzielle Konzentration von Ressourcen auf ein Ereignis, Event oder Projekt. Vgl. Häußermann, Siebel 1993.

13 Vgl. Refondons l’école de la République, Rapport de la concertation, S.40; siehe Materialpool MCS0108.pdf.

14 Vgl. hierzu die Aprilnumer 2011 des KM Magazins mit dem Schwerpunkt Stadt- und Regionalmarketing (KM 2011) oder zur Bedeutung der Kreativwirtschaft in der Schweiz: Weckerle et al 2007; Zusammenfassende Daten auch unter → http://www.creativezurich.ch/kwg.php [15.11.2012].

15 Diese Aussagen basieren auf einem Telefongespräch zwischen der Autorin und der Festivalleiterin Jenny Harris [11.12.2012].

16 Aussagen von Jenny Harris [11.12.2012].

17 → http://www.printempsdespoetes.com/index.php?rub=2&ssrub=16&page=59 [15.11.2012].

18 Alle Themen von Le Printemps des Poètes finden sich unter → http://www.printempsdespoetes.com/index.php?rub=4&ssrub=23&page=13 [18.11.2012].

19 → http://www.printempsdespoetes.com/index.php?rub=3&ssrub=21&page=75 [17.11.2012].

20 → http://www.printempsdespoetes.com/index.php?rub=4&ssrub=23&page=13 [17.11.2012].

21 → http://www.barbarataylorbradford.co.uk [10.11.2012] und → http://www.iain-banks.net [10.11.2012].

22 Alle hier zitierten Aussagen stammen von Jenny Harris im Telefongespräch mit der Autorin am 11.12.2012.

23 → http://www.a-n.co.uk/publications/article/193995 [10.11.2012].

24 Folgende Künstler_innen haben sich am Projekt «Signs of the Times» beteiligt: Paul Ashton, Amelia Crouch, Clare Charnley, Jess Mitchell und Vikkie Mulford.