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5.3 Dekonstruktive Funktion von Kulturvermittlung

Kulturvermittlung kann die Funktion übernehmen, Kulturinstitutionen, die Künste und auch die Bildungs- und Kanonisierungsprozesse, die durch sie stattfinden, gemeinsam mit dem Publikum kritisch zu befragen. Sie kann zum Beispiel die Verhaltensregeln, die in Kulturinstitutionen gelten, ihre Zugänglichkeit und ihre Position, zu definieren, was als hochwertige Kunst gilt und was nicht, zur Debatte stellen. Sie kann die  Geschichte der Institutionen aufdecken und über ihre Verstrickung in Macht- oder in Marktverhältnisse reflektieren. Darüber hinaus kann sie zusammen mit den Teilnehmenden auch auf diese Problemstellungen durch eigene Handlungen antworten – sie kann zum Beispiel anregen, dass Teilnehmende eigene Erzählungen oder Objekte hervorbringen und diese als Intervention in der Institution platzieren. Diese dekonstruktive Funktion von Kulturvermittlung ist in der Praxis bislang seltener zu finden. Sie ist historisch eng verbunden mit der kritischen Theorie und der Praxis der Institutionskritik, wie sie sich in den Künsten seit den 1960er Jahren entwickelt hat. Präsent ist sie bisher vor allem in der Vermittlung der visuellen Künste. Ein Beispiel dafür ist das Projekt «ArtUOM», das der Kunstvermittler  Javier Rodrigo in der Fundació Pilar i Joan Miró auf Mallorca, Spanien, zusammen mit der «Universitat Oberta per a Majors» (dem Bildungsangebot für Senior_innen an der Universität der Balearischen Inseln) über drei Jahre hinweg durchführte. Die Teilnehmenden erkundeten das Museum und seine Ausstellungen, führten Interviews und Diskussionen mit den dort Arbeitenden, besuchten die Werkstätten und Lager – mit dem Ziel, zu verstehen, nach welchen Regeln eine Institution der zeitgenössischen Kunst arbeitet und nach welchen Kriterien Kunst ausgewählt, gezeigt und bewertet wird. Jedes Jahr endete mit einer eigenen Ausstellung, welche die – teilweise kritischen – Aneignungsprozesse, die während des Projektes stattfanden, auf künstlerische Weise dokumentierte und das Publikum wiederum zu eigener Aktivität einlud. Ein deutlich dekonstruktives Element ist der Katalog des Projektes, der von den Teilnehmenden selbst in einem Stil geschrieben wurde, welcher einen Gegenentwurf des Sprechens über Kunst zu den im Kunstfeld und beim Fachpublikum üblichen Sprechweisen darstellt.

Das Beispiel macht deutlich, dass Kulturvermittlung im Zeichen der Dekonstruktion ihrerseits häufig künstlerische Merkmale aufweist und diese reflektiert. Die dekonstruktive Funktion der Kulturvermittlung kann jedoch auch in vornehmlich affirmativen Formaten auftauchen, zum Beispiel in Ausstellungsführungen, insofern sie das Ziel mitverfolgen, die Autorisiertheit der Institution zu hinterfragen, zu relativieren, zu kritisieren und als eine Stimme unter vielen sichtbar zu machen.

Problematisch kann sein, dass Vermittlungsprojekte mit dekonstruktiver Funktion zuweilen dazu tendieren, sich selbst zu genügen und ähnlich selbstreferenziell zu werden wie manche Kunst. Dass sie also Kritik formulieren, sich aber nicht mit den Konsequenzen und Bedingungen für deren Umsetzung auseinandersetzen.