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4.8 Lehr- und Lernkonzept: Konstruktivistisch und sozialkonstruktivistisch

Ein konstruktivistisches Lehr-Lernkonzept geht davon aus, dass Lernen nicht auf Wissensvermittlung durch eine äussere Instanz beruht, sondern auf Prozessen der Selbstorganisation des Gehirns. Diese Prozesse werden als aktive Herstellung von Wirklichkeit durch Konstruktion und Interpretation verstanden. Wirklichkeit ist ein Prozess – sie befindet sich durch das Handeln von Menschen und durch deren Interpretationsleistungen in einem dynamischen Wandel. Die Ergebnisse eines Lernprozesses sind aus dieser Perspektive nicht im Detail von aussen steuerbar. Für die Lehrenden bedeutet dies, dass sie weniger anleiten und instruieren, sondern eher die Rolle von Moderierenden und von Gestaltenden einer möglichst förderlichen Lernumgebung einnehmen. Denn Lernen ist in diesem Verständnis immer in konkrete Situationen eingebettet und zudem stark abhängig davon, was Lernende in diese Situationen miteinbringen.

Eine Erweiterung stellt die sozialkonstruktivistische Lehr-Lernkonzeption dar. Diese betont, dass sich die Konstruktions- und Interpretationsleistung von Menschen nie auf ein Individuum als in sich abgeschlossenes System beschränkt: Wirklichkeit wird immer in soziale Beziehungen eingebettet hergestellt. Eine sozialkonstruktivistische Lehr-Lernkonzeption richtet daher ein besonderes Augenmerk auf die Art und Weise, wie Machtverhältnisse und Normen den individuellen Lernprozess beeinflussen.

Bei dem dieses Kapitel durchziehenden Beispiel des Einführungsvortrags zum Honegger-Abend könnten in dieser Perspektive auch Lernprozesse betrachtet werden, die sich über die beabsichtigte, instruktive Wissensvermittlung des Vortrags hinaus ereignen. So lernen beispielsweise die Mitglieder des Publikums durch ihre Interaktionen voneinander, wie sie sich in einem Konzertsaal und während eines Vortrags körperlich verhalten sollen (nicht husten, stillsitzen …). Oder sie «üben», wie man im jeweiligen Kontext (konzert- und filminteressiertes Publikum, Konzertsaal) sozial akzeptierte Wertschätzung oder Kritik äussert. Oder sie lernen Methoden der sozialen Bestrafung, der Ausgrenzung, falls ein Mitglied der Gruppe die sozialen Erwartungen unterläuft. Zum Beispiel, indem es lautstark über den Vortragenden schimpft oder beginnt, auf dem Buffettisch zu tanzen und begeistert Melodien aus den vorher gehörten Stücken nachsingt.