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6.7 Legitimation: Kulturvermittlung als Werkzeug zur Verbesserung sozialer Missstände

Fast in jeder Verlautbarung, die sich für die Förderung von Kulturvermittlung einsetzt, werden ihr grosse Potentiale für die Bekämpfung oder zumindest für die Linderung von sozialen Problemen zugeschrieben. Der Einsatz von Projekten der Kulturvermittlung wird zum Beispiel im Gesundheitswesen zu Therapiezwecken, in der Quartier-, Jugend- und Sozialarbeit oder bei urbanen Planungsprozessen auf diese Weise begründet. Dabei werden Wirkungen auf die beteiligten Individuen benannt, wie die Stärkung des Selbstbewusstseins, der Leistungs- und Risikobereitschaft oder positive Veränderungen im Sozialverhalten. Zum anderen werden auch die Effekte für den jeweiligen sozialen Zusammenhang und die Gesellschaft als Ganzes betont – zum Beispiel mit dem Hinweis, dass Projekte der Kulturvermittlung den Zusammenhalt stärken, Lust auf Beteiligung an der Mitgestaltung der Umwelt erzeugen, die Bildung von lokalen Netzwerken fördern oder zur Konfliktlösung beitragen (Matarasso 1997).

Ein Beispiel, das in den letzten Jahren breit diskutiert wurde, ist das Projekt  Rhythm Is It!, bei dem die Berliner Philharmoniker zusammen mit dem Regisseur Royston Maldoon «Le Sacre du Printemps» als Ballett mit Berliner Hauptschülern erarbeiteten. Der auf dem Projekt beruhende Film stellt die verhaltensändernde Wirkung dieses Unternehmens auf die Schüler_innen heraus. Das Projekt diente als Impuls für zahlreiche weitere Tanzprojekte in Schulen im deutschsprachigen Raum. Ähnlich argumentiert das Projekt  Superar und seit dem Jahr 2012 auch «Superar Suisse», das sich das wachsende Netzwerk von Jugendorchestern aus Venezuela «Fundación del Estado para el Sistema de Orquesta Juvenil e Infantil de Venezuela» (FESNOJIV), kurz  El Sistema zum Vorbild genommen hat. Durch dieses erhalten Kinder aus venezuelanischen Armenvierteln Instrumentalunterricht in klassischer Musik, inklusive Aufführungen im Orchester. Auch zu El Sistema ist ein  Film entstanden, der es sich zur Aufgabe macht, die lebensverändernde Wirkung bei den teilnehmenden Kindern sichtbar und damit beweisbar zu machen. Der Erfolg dieser Filme verweist auf ein vergleichsweise grosses öffentliches Interesse an Vermittlungsprojekten mit sozialem Legitimationsanspruch. Dabei ist die Verankerung dieser Legitimation im kollektiven Gedächtnis nicht zufällig. Ähnlich wie das Argument, Kunst sei ein für alle Menschen wichtiges Bildungsgut, hat auch sie eine lange Geschichte: Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden in Stadtteilen englischer Industriestädte sogenannte «philanthropische Galerien» – gegründet von Pfarrern, Sozialarbeiter_innen oder auch Arbeiter_innen selbst – in denen Kunst dazu verwendet wurde, die völlig verarmten Bewohner_innen vom Alkoholkonsum abzuhalten und im Sinne bürgerlich-protestantischer Werte zu erziehen.

Als – schon damals geübte – Kritik an dieser Legitimation für Kulturvermittlung wird vorgebracht, dass «kulturelle Teilhabe» häufig an die Stelle realer politischer Mitbestimmung tritt und Kulturprojekte eher zur Beruhigung und Dekoration und nicht zur Bekämpfung von Problemen dienen. Damit ersetzen sie etwa teurere oder kontroversere politische Eingriffe wie Gesetzesänderungen oder die Umverteilung von Ressourcen.

Eine weitere Kritik richtet sich gegen die Instrumentalisierung von Kunst. Das Potential der Künste liegt aus dieser Perspektive gerade in der Auseinandersetzung mit dem Provozierenden, Unbequemen, Unwägbaren, sich der Nützlichkeit Verweigernden. So wies Max Fuchs, Vorsitzender des deutschen Kulturrates, in einem Beitrag 2004 darauf hin, «dass es gerade die Entlastung von Effizienz und pragmatischer Wirksamkeit ist, die die Handlungsform Kunst so wirkungsvoll macht» ( Fuchs 2004). Kulturvermittlung hat aus dieser Sicht die Aufgabe, diese Auseinandersetzung zu befördern anstatt die Künste als Mittel gegen soziale Missstände zu verwenden.