Ein Nachmittag im Museum - eine Reportage von Elisabeth Stoudmann
Als neues Mitglied des kürzlich gegründeten Vereins "Musikvermittlung Schweiz+" frage ich mich immer noch, was der Begriff Musikvermittlung eigentlich genau bedeutet. Die Formate "Musikworkshop", "Schulprojekt" und "musikalische Einführung in ein Thema oder eine Erzählung" sind mir als Journalistin und Leiterin von Musikprojekten bekannt. Doch ich verbinde den Begriff der Vermittlung immer mit einer Art Schiedsgericht und Moderation zwischen zwei Parteien, die sich nicht einig sind. Das ist verwirrend.
Deshalb nahm ich Barbara Balba Webers Vorschlag gerne an: Ich solle sie an einen Workshop mit dem Team des Musée d'Ethnographie in Genf begleiten. Das MEG besitzt ein Archiv mit 16'000 Stunden Musik aus aller Welt sowie eine Sammlung von 2500 Instrumenten, von denen mehrere Exemplare in der Dauerausstellung des Museums zu sehen sind. An einem Montagnachmittag im Februar treffen sich Mauricio Estrada Muñoz, der zuständig ist für die Abteilung "Öffentlichkeit", sowie acht Kulturvermittler und Kunstführerinnen in einem Sitzungsraum. Sie diskutieren darüber, wie die Objekte und Tonaufnahmen ihrer Sammlungen besser aufgewertet und vermittelt werden könnten. Zuvor waren sie auf eine Anleitung für die praktische Musikvermittlung gestossen, den Barbara Balba Weber mit sechs weiteren Kulturvermittlern aus der Schweiz in Rahmen einer Forschungsarbeit verfasst hatte. Der Kompass ist über die Geschäftstelle von Kulturvermittlung Schweiz erhältlich.
Was? Weshalb? Für wen? Wie? Wer?
Im Zug nach Genf erklärt mir Barbara, dass Musikvermittlung alle Aktivitäten umfasst, die einem Publikum die Musik näher bringen. Die Musikerinnen und Musiker sind die primären Vermittler, doch auch Journalisten, Konzertveranstalterinnen, Plattenproduzenten oder andere Personen, die irgendetwas mit Musik zu tun haben, erfüllen diese Funktion. Jetzt fühle ich mit schon wohler: Ich bin eine Musikvermittlerin - wenn ich das gewusst hätte ...
Barbara Balba Weber eröffnet den Workshop und stellt die Anleitung "Musikvermittlung - ein Kompass für die Praxis" vor. Es handelt sich um einen einfachen, beidseitig bedruckten Faltprospekt mit erläuternden Darstellungen: ein Werkzeug für die Analyse und die Entwicklung von Vermittlungsaktivitäten anhand der fünf Grundkriterien: was - weshalb - für wen - wie - wer?
Anhand dieser Kriterien befassen sich die Anwesenden mit weiteren Fragen, damit sie ihr Projekt besser beurteilen, weiterentwickeln oder effizienter nach aussen kommunizieren können. Jede Musik hat ihre Besonderheiten, doch die fünf Kriterien sind immer anwendbar. Einige Beispiele: Die klassische Musik möchte vermehrt ein junges Publikum anziehen (übrigens ist dieses Musikgenre in der Musikvermittlung am aktivsten). Die Volksmusik ist auf dem Land präsent, dafür weniger in der Stadt. Und Hip-Hop ist eine Frage der Generation. Was kann man tun, um diese Grenzen zu überwinden? Um Brücken zu neuen Publikumskreisen zu schlagen? Diese Herausforderungen stellen sich der Musikvermittlung.
Traditionelle Musikstile: im Wandel begriffen
Die Situation im MEG ist speziell, denn das Museum schafft keine Musik, sondern archiviert sie. Dort findet die Musikvermittlung bereits statt: In einem Klangraum werden Töne und Bilder miteinander verwoben, um den immateriellen Träger Musik "fassbarer" zu machen. Thematische Führungen rund um die Musik verweisen auf die ausgestellten Instrumente und die Tonaufnahmen (auf Tablets verfügbar), und auf dem Programm stehen Aufführungen mit Musikern oder DJs. Über 100 Tonaufnahmen wurden bereits veröffentlicht, darunter drei Remixe aus Tonarchiven. Ausserdem finden regelmässig Schulbesuche statt.
Das Team des MEG erwägt momentan auch ein Projekt für Erwachsene, das unter Einbezug der Musiker und der Öffentlichkeit die Tonarchive reaktivieren und neu präsentieren könnte. Dabei stellen sich folgende Fragen:
- Wie versetzt man die traditionellen Musikstile wieder in ihren Kontext?
- Wie stellt man die Objekte in einen sinnvollen Bezug zueinander?
- Wie entsteht eine "Klangreise", wie erzählt man Geschichten?
- Wie bewahrt/fördert man die heutigen traditionellen Musikstile?
Kompass und Gedankenanstösse
Der Kompass für die Musikvermittlung in der Praxis zeigt den Workshop-Teilnehmern, dass die Art der Vermittlung und der Inhalt zusammenhängen. Ihre Fragen zum Werkzeug und zu dessen Funktionsweise ergeben sich aus den Überlegungen, die sie sich zum Vorgehen machen.
Schon bald stellt sich die Frage, was denn traditionelle Musikstile sind: Die Anwesenden sind sich offensichtlich einig, dass diese Stile im Sinne von "traditionell verankert" eigentlich gar nicht existieren. Sie sind von Natur aus im Wandel begriffen. Nur: Wie soll man ihr Entwicklungspotenzial zeigen, wo sie doch in einem Museum "eingeschlossen" sind?
Jetzt sind die Mitglieder ausländischer Gemeinschaften gefragt. Dieses Publikum kennt den Reichtum des musealen Kulturguts nicht, fühlt sich aber oft von der Musik angesprochen. Wie könnte man sie in den Prozess einbinden?
In einer von Bildern beherrschten Gesellschaft wäre es interessant, die Musikstile in Form von Filmauszügen darzustellen. Um solche Bilder zu finden, braucht es neue Partnerschaften, da sind sich alle einig. In Frage kommen Musikschulen, Musikerinnen, Musiker und verschiedenste Einrichtungen oder Institutionen aus der Welt der Musik.
Der Brainstorming-Nachmittag geht ohne definitive Antworten zu Ende. Aber diese waren auch nicht das Ziel: Vielmehr wurde ein Denkprozess ausgelöst. Ein Prozess, der eine Öffnung und den Austausch von Kompetenzen fördert. Nun braucht es Zeit, diese ersten Kontakte zu verarbeiten. Wir kehren zu unseren Alltagsgeschäften zurück, und möglicherweise wird es 2016 ein weiteres Treffen geben. Für mich war der Workshop eine bereichernde Erfahrung: Nach diesem halben Tag kann ich mir ein besseres Bild von der Musikvermittlung machen und erkenne auch den Teamgeist dahinter. Das sind erfreuliche Perspektiven. Wir bleiben dran.
Text: Elisabeth Stoudmann
Aus dem Französischen übersetzt von Claudia Kallenberger
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