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Corinne Doret Baertschi und Fanny Guichard

Zwei konkrete Beispiele für Kulturvermittlung im Théâtre Vidy-Lausanne

Das Théâtre Vidy-Lausanne bietet seit mehreren Jahren Kulturvermittlungsaktionen für verschiedene Zielgruppen an. Zwei konkrete Beispiele sind die Vorführung von «Der Geizige» in Schulklassen und Theaterstücke mit Audiodeskription.

«Der Geizige» in Schulklassen

Im Jahr 2012 haben das Théâtre Vidy-Lausanne und der Regisseur Dorian Rossel eine Version von Molières «Der Geizige» für Schulklassen inszeniert. Sie wird den Schüler_innen im Unterricht vorgeführt, wobei die Theaterdarbietung während der beiden Schulstunden immer wieder durch den Austausch mit den Klassen unterbrochen wird.

Interesse fürs Theater ist keine Selbstverständlichkeit. Theater ist mit vielen Vorurteilen behaftet. Indem wir auf die Schüler_innen zugehen und ihnen eine einfache, leicht verdauliche Form von Theater präsentieren, möchten wir ihnen das Lebendige, Direkte und Universelle vermitteln, getrennt vom zuweilen einschüchternden Ritual, mit dem Theater als gesellschaftlicher Anlass verbunden ist. «Der Geizige» von Molière schien uns wegen seines Humors und dem in unserer Welt allgegenwärtigen Thema Geld geeignet.

Die Darsteller_innen spielen nicht nur Szenen von Molière, sondern tauschen sich direkt mit den Klassen aus. Wir sind überzeugt, dass die Zuschauer_innen das Dargebotene anders wahrnehmen und beurteilen und sich paradoxerweise auch mehr einbringen, wenn wir ihnen die Theaterkniffe erklären. Das Theater richtet sich im Klassenzimmer fast schon unauffällig ein, ganz ohne übermässiges Bühnenbild, Kostüme und Licht, und entwickelt sich nach und nach nur mit dem Spiel der Darsteller_innen. Die Thematik eröffnet nicht nur im Französischunterricht Möglichkeiten, sondern auch in Wirtschaft, Philosophie, Soziologie, Geschichte und Psychologie.

Theaterstücke in Audiodeskription

Im Bewusstsein, dass ein Teil der Bevölkerung aufgrund von Behinderungen keinen Zugang zum Theater hat, hat das Théâtre Vidy-Lausanne im März 2011 ein in der Schweiz neuartiges Pilotprojekt gestartet: die Aufführung eines Theaterstücks mit Live-Audiodeskription1 für sehbehinderte und blinde Menschen. Um sie angemessen zu empfangen, organisiert das Theater freiwillige Helfer_innen, die sie bei ihrer Ankunft begrüssen oder sogar zu Hause abholen und den ganzen Abend betreuen.

Zunächst können sich die sehbehinderten und blinden Menschen auf der Bühne bewegen und die Bühnenelemente abtasten, um sich mit dem Bühnenbild und dem Zubehör vertraut zu machen. Während der Theatervorführung beschreibt ein am Regiepult sitzender Audiodeskriptor die visuellen Elemente des Bühnenwerks. Die Kommentare werden über Kopfhörer übermittelt, damit das übrige Publikum nicht gestört wird.

Dank des grossen Anklangs, den dieses Experiment fand, können wir die Initiative fortsetzen. Mittlerweile bietet das Théâtre Vidy-Lausanne regelmässig Stücke mit Audiodeskription an. Im Juni 2012 haben wir sehbehinderte und blinde Kinder zusammen mit ihren Familien zu einer Zirkusvorstellung eingeladen. Parallel dazu konnten sie gemeinsam mit anderen Kindern einen Vorbereitungs-Workshop besuchen.

Corinne Doret Baertschi und Fanny Guichard sind beide verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit im Théâtre Vidy-Lausanne.

1 Audiodeskription ist ein Verfahren, das Blinden und Sehbehinderten die Möglichkeit verschafft, die visuellen Vorgänge in Filmen, Schauspielen und Ausstellungen dank eines akustischen, die Handlung beschreibenden Kommentars besser wahrzunehmen.

Anina Jendreyko

Wer ist fremd? Oder von der Kunst, seine Zielgruppe aufzulösen

Das Projekt  fremd?! arbeitet in Basel, in Quartieren, in denen die gesellschaftliche Vielfalt schon lange zum Alltag gehört. Im Mittelpunkt stehen Theaterproduktionen mit 12- bis 15-jährigen Jugendlichen. Das Projekt ist an die Klassengemeinschaft gebunden und somit an die Institution Schule. Am Ende der 7-monatigen Probenphase finden jeweils fünf öffentliche Aufführungen in einem Theater in Basel statt. Die Arbeit wird von professionellen Theaterschaffenden, Schauspieler_innen, Musiker_innen und Tänzer_innen verschiedener sozialer und kultureller Herkunft geleitet.

«fremd?!» richtet sich an eine eindeutig auszumachende Zielgruppe. Da das Projekt im Themenfeld Interkultur angesiedelt ist, setzt es sich dem Vorwurf aus, die  Ungleichheit, die es bekämpfen will, zu verstärken. Bei genauer Betrachtung wird klar, dass schon im Titel «fremd?!» die Eindeutigkeit der Zielgruppe angezweifelt wird. Fragezeichen und Apostroph sind Hinweise darauf, dass sich das Projekt der Ambivalenz von Zuschreibungen bewusst ist und sie kritisch hinterfragt.

Schon beim ersten Zusammentreffen mit den Jugendlichen wird in der Regel deutlich, worauf der Titel anspielt. Denn die Teilnehmenden nehmen für sich selbst das Thema Migration und die damit verbundenen, möglicherweise abwertenden Attribute gar nicht in Anspruch. «fremd?!» arbeitet mit einer Zielgruppe, die sich als Ziel erst entdecken muss.

Der Impuls für das Projekt «fremd?!» kam nicht von einer Kulturinstitution, sondern von einer Einzelperson. Mit dem Blick der aus der Fremde Heimgekehrten nahm die Autorin schnell wahr, dass auf die kulturelle Vielfalt, die auch im Basler Schulalltag längst Realität war, nicht angemessen reagiert wurden. Vieles galt (und gilt) als problematisch, eine andere Muttersprache als die übliche als defizitär. Die Autorin traf auf Klassen, in denen bis zu 15 verschiedene Muttersprachen gesprochen wurde. Von dieser Vielfalt ausgehend, setze sie mit den Mitteln des Theaters, der Musik und des Tanzes einen künstlerischen Prozess in Gang.

Der Grundgedanke des Projektes «fremd?!», den Blick zu richten, weniger auf Migration als auf Vielfalt der Kulturen, und damit eine Erweiterung der kulturellen Landschaft, eine Öffnung für neue Inhalte und Stile zu erreichen, hat im Laufe der Jahre deutlich an Kontur gewonnen. «fremd?!» beruft sich auf das Konzept der Transkulturalität, der wechselseitigen Durchdringung von Kulturen. Man kann behaupten, «fremd?!» habe das Zielgruppendenken als Ansatzpunkt genutzt, um sich von dort auf sein eigentliches ideologisches Ziel hin zu bewegen: die Auflösung der Zielgruppe.

Anina Jendreyko ist Schauspielerin und Regisseurin. Nach mehreren Jahren in der Türkei und Griechenland kehrte sie 2006 in die Schweiz zurück. In Basel initiierte sie das transkulturelle Theaterprojekt «fremd?!», dessen künstlerische Leitung sie inne hat und dem mittlerweile mehr als ein Dutzend Theaterschaffende angehören.

Nadia Keckeis und Jeanne Pont

Behinderung. Kultur und Kulturvermittlung als Kettenreaktion

Im Rahmen der Partnerprojekte des Programms «Kulturvermittlung» von Pro Helvetia haben die Stadt und der Kanton Genf in Zusammenarbeit mit dem Comité franco-genevois (CRFG) verschiedene Aktionen rund um das Thema «Kulturvermittlung, Kultur und Behinderung» angeboten. Sie haben bei den projektbeteiligten Kultureinrichtungen viele Überzeugungen ins Wanken gebracht und neue Vorgehensweisen aufgezeigt.

Menschen mit Behinderungen Zugang zu Kultureinrichtungen zu ermöglichen, entspricht dem demokratischen Grundsatz der Chancengleichheit. In der Schweiz ist dieses Prinzip im Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG, 2002) verankert.

Die Berücksichtigung der besonderen kognitiven Fähigkeiten und Verhalten von Menschen mit Behinderungen wirft die etablierten kulturellen Aktionsweisen über den Haufen. Dies trifft umso mehr zu, weil behinderte Personen keine einheitliche Gruppe bilden und sich die durch die verschiedenen Arten der Behinderungen gegebenen Anforderungen gegenseitig im Weg stehen können. Hinzu kommt, dass eine Behinderung dauerhaft oder zeitlich beschränkt sein kann. Behinderungen können eine Vielzahl äusserst unterschiedlicher Formen annehmen. In der Schweiz sind rund 1,4 Millionen Menschen betroffen; dies entspricht 20 Prozent der Bevölkerung.

Bei der Ausarbeitung eines Kulturprojekts behindertengerecht zu denken, schafft die Möglichkeit, die Begegnung mit dem Publikum zu überdenken. Für diesen Prozess ist nicht mehr nur der Kulturvermittler zuständig, vielmehr ist die ganze Kultureinrichtung betroffen; es findet eine Vernetzung statt. Während der Kulturvermittler seine kognitive Annäherung an Kulturinhalte anpassen oder sogar umstellen und sich dabei besonderen Rhythmen und Verhalten beugen muss, besteht die Aufgabe des Kommunikators darin, auf die Vereinbarkeit seiner Werkzeuge mit den Hilfsmitteln der sensorisch oder motorisch beeinträchtigten Personen zu achten. Der Bühnenbildner muss die Umgebung behindertengerecht gestalten, die für den Empfang zuständige Person benötigt Grundkenntnisse der nicht-verbalen Kommunikation und der Blindenführung. Alle müssen in der Lage sein, die Situation mit anderen Augen zu betrachten, Kreativität zu beweisen, und sollten sich nicht fürchten, Neues auszuprobieren. Es bleibt ihnen keine andere Wahl, als ihrem Gegenüber, das heisst nicht nur dem Besucher, sondern auch ihren Kollegen, zuzuhören.

Bei jedem Projekt müssen Grundüberlegungen zum soziokulturellen Profil der Zielgruppen oder zu ihrem Verhältnis zum kulturellen Umfeld angestellt werden. Und genau hier ist vernetztes Arbeiten so wichtig, denn um der Besonderheit der Behinderungen gerecht zu werden, braucht es die Erfahrung direkt betroffener Personen. Die Zielgruppe gestaltet das für sie selbst bestimmte Kulturangebot dadurch ein Stück weit mit.

Die im Rahmen des Projekts «Kulturvermittlung, Kultur und Behinderung» durchgeführten Experimente haben gezeigt, dass durch den Perspektivenwechsel bei der Betrachtung des Zugangs zu Kulturstätten und Kulturinhalten neue wesentliche und für alle nützliche Vermittlungsformen entstehen.

Nadia Keckeis, stellvertretende Direktorin der Fachstelle Kultur im Departement für Bildung, Kultur und Sport der Republik und des Kantons Genf.

Jeanne Pont, Kulturbeauftragte der Stadt Genf, Fachstelle für Kulturförderung des Departements für Kultur und Sport. Entwicklung und/oder Koordination von innovativen, bereichsübergreifenden Kulturvermittlungsprojekten. Entwicklung von Werkzeugen für Umfragen über die kulturellen Zielgruppen und die kulturelle Praxis.

Arbeitsgruppe Vermittlung, Pro Helvetia

Für wen Kulturvermittlung?

Vermittlungsprojekte haben die Besonderheit, dass sie oft mit definierten Zielgruppen arbeiten. Deshalb muss auch die Förderung im Bereich der­artiger Projekte zur Frage der Zielgruppen Position beziehen.

Pro Helvetia erwähnt in ihren Kriterien zur Förderung von Ver­mittlungs­projekten keine bestimmten Zielgruppen, sondern lediglich ein Publikum, an das sich Vermittlungsprojekte richten sollen. Mit «Publikum» wurde bewusst ein sehr offener Begriff gewählt. Somit wird die Frage der Zielgruppe in erster Linie den Vermittler_innen beziehungsweise Projekt­leiter_innen überlassen.

Die Wahl einer bestimmten Zielgruppe hat eine bestimmte Art der Adressierung, der Vermittlungsmethodik sowie die potentiell erforderliche Unterstützung durch spezialisierte Fachpersonen zur Konsequenz. Bei der qualitativen Beurteilung durch Pro Helvetia wird unter anderem darauf geachtet, ob das Projekt die spezifischen Anforderungen einer bestimmten Zielgruppe berücksichtigt und ob das Knowhow für die Auseinandersetzung mit dieser vorhanden ist (z. B. Jugendliche mit Migrationshintergrund, Menschen mit Sehbehinderungen etc.). Qualitätsvolle Vermittlung zeichnet sich für Pro Helvetia ebenfalls durch einen reflektierten Umgang mit Zielgruppen aus. Dies ist unter anderem erkennbar, wenn Projekte gemeinsam mit den Projekt­teilnehmer_innen entwickelt werden und beim Einsatz von innovativen Formaten, in denen das entsprechende Fachwissen der gewählten Zielgruppe eingebunden wird.

Die interdisziplinäre Arbeitsgruppe Vermittlung von Pro Helvetia war im Rahmen des Programms Kulturver­mittlung für die Entwicklung der Förderkriterien zuständig.