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3.4 Vermittlung von Kunst als System

Wer bestimmt, was Kunst oder wer ein_e Künstler_in ist? Wie entstehen Qualitätskriterien in den Künsten? Wie kommt der Preis für ein Werk zustande, und wie ist es dazu gekommen, dass Kunst überhaupt als Ware gehandelt wird? Ist ein Interesse für die Künste eher der Veranlagung oder der sozialen Prägung zuzuschreiben? Warum studieren an Schweizer Kunst- und Musikhochschulen bisher hauptsächlich junge Menschen, die  weiss sind und aus Familien der oberen und akademisch gebildeten Mittelschicht stammen, obwohl in den Aufnahmeprüfungen «Talent» als wichtigstes Auswahlkriterium gilt? Solche Fragen sind Beispiele für Inhalte der Kulturvermittlung, die Kunst als  System reflektieren und zu Debatten anregen. Sie zielen auf die – häufig ungeschriebenen – Regeln des künstlerischen  Arbeitsfeldes, die Marktmechanismen oder die gesellschaftlichen Bedingungen der verschiedenen künstlerischen Sparten.

Ein Sonderfall ist die Thematisierung der systemischen Funktionen der Vermittlung selbst – wenn zum Beispiel gemeinsam mit Teilnehmenden darüber diskutiert wird, für wen, wie und warum die Künste überhaupt bilden und/oder vermittelt werden sollen.

«Kunst als System» kann prinzipiell in jedem Vermittlungsformat thematisiert werden – tatsächlich geschieht dies zumindest in Kontinentaleuropa bislang jedoch eher selten und wenn, dann meist nur in sehr kleinen Dosen. Ein Grund dafür kann darin gesehen werden, dass das kritische Potential dieser Überlegungen in einem latent widersprüchlichen Verhältnis zu der traditionell systemerhaltenden und -bestätigenden Aufgabe der Vermittlung steht und deswegen an vielen Stellen nicht zum Selbstverständnis des Vermittlungspersonals gehört oder von den Leitungen der Kulturinstitutionen nicht gewünscht oder sogar ausdrücklich unterbunden wird.

Einen anderen Umgang legt die Einsicht nahe, dass (Selbst-)kritik und (Selbst-)reflexivität in einem gewissen Mass auch eine systemerhaltende Dimension haben, da sie einem System helfen, sich weiterzuentwickeln und widerstandsfähiger zu werden. So haben zum Beispiel die Tate Galleries in Zusammenarbeit mit Lehrpersonen ein «Art Gallery Handbook: A Resource for Teachers» (Tate Galleries, London 2006) herausgegeben, welches unter anderem die Auswahlprozesse und Deutungshoheiten in der Institution offenlegt und in ihrer Autorität hinterfragt. Da die Tate viel mit Schulen kooperiert, liegt hier die Vermutung nahe, dass es für sie interessant ist, informierte und selbständig denkende Lehrpersonen als Gegenüber zu haben und dass die Einladung zum Selberdenken deren Identifikation mit der Tate mehr befördert als Versuche, sie «zur Kunst zu bekehren». Es bleibt jedoch auch bei diesem Beispiel offen, wie weit die Kritik wirklich gehen kann und ab welchem Mass und in welcher Form sie von der Institution als Bedrohung oder Kontrollverlust wahrgenommen wird.