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Tim Kramer

Gemeinsam neue Wege und Formen kreieren

Mit überwiegend positiven Reaktionen konnte «Konzert und Theater St. Gallen» in der Spielzeit 2011/12 das Projekt «Arbeit!» im Rahmen des Programms Kulturvermittlung von Pro Helvetia umsetzen. Für eine Institution unserer Grösse waren die Zusammenarbeit mit Pro Helvetia, die wissenschaftliche Begleitung durch das Institut für ästhetische Bildung und Vermittlung (IAE) der ZHdK, aber vor allem auch die intensivierte Unterstützung durch die Kantone St. Gallen, Thurgau und die beiden Appenzell äusserst befruchtend. Neben einer spannenden Research-Phase wurden wir mit einer ungewöhnlich lebendigen szenischen Umsetzung von zum Grossteil völlig theaterfernen Laien zum Thema Arbeitssuche belohnt. Darüber hinaus waren wir als Institution immer wieder gefordert, unsere bisherige Vorgehensweise bei der Kulturvermittlung zu hinterfragen. Der Perspektivwechsel, der sich allein aus der aktiven Beteiligung von Arbeitssuchenden ergeben hat, zeigte eindrücklich, wie sich eine arrivierte Institution in ihrer Kommunikation auf die bestehenden Publika eingeschworen hat. Da unsere Aufgabe neben dem Bewahren und Vermitteln des künstlerischen Erbes dezidiert auch darin besteht, neue Blickwinkel einzunehmen und zur Diskussion zu stellen, empfanden wir dieses Projekt als äusserst bereichernd.

Trotz dieser positiven Aspekte scheint mir aber die Schwierigkeit der Unterscheidung von Kunst und Kulturvermittlung im Rahmen dieses Projekts noch deutlicher hervorgetreten zu sein. Sehr schnell ist man bei der Bewertung und Forderung von zeitgemässer Kulturvermittlung in einem Zwiespalt zwischen herkömmlicher Kunst(«-Produktion») und moderner, zeitgemässer Kulturvermittlung gefangen. Für mich ist diese Unterscheidung aber äusserst ungenau und verflacht. Bei näherer Betrachtung stellt sich nämlich heraus, dass Kunst, insbesondere natürlich die darstellende Kunst, immer eine vermittelnde Kommunikation zum Zwecke des Lernens herstellen will. Kunst ist grundsätzlich Interaktion, und immer schon in beide Richtungen gedacht. Das Problem, dass sich uns heute stellt, ist vielmehr, dass sich die Kommunikationslage mit atemberaubender Geschwindigkeit verändert, dass sich die bisherigen Publikumsschichten auflösen und entsprechend den revolutionären gesellschaftlichen Entwicklungen gar nicht mehr definiert werden können. An diesem Punkt greifen für mich die neuen Entwicklungen in der Kulturvermittlung. Wir müssen gemeinsam herausfinden, welche Bedeutung heute Kunst hat, worin sie besteht, und wer sie braucht oder brauchen könnte. Denn dass in einer radikal diversifizierten Gesellschaft Kunst eine identitätsstiftende und vor allem persönlichkeitsstärkende Aufgabe hätte, ist evident. Wir ziehen also am gleichen Strang, wenn wir die herkömmlichen Lernwege hinterfragen, um eine neue und zeitgemässe Lernkultur zu entwickeln, damit der Mensch den immensen Herausforderungen der Gegenwart begegnen kann.

Tim Kramer, Schauspieler, Regisseur, Theaterpädagoge. Seit 2007 Schauspieldirektor bei Konzert und Theater St. Gallen.

microsillons

Vermittlung.(Kontra)punkte.

Das Vorgehen des seit 2005 aktiven Kollektivs microsillons ist eine Gratwanderung zwischen Vermittlung im Sinne einer autonomen (der kuratorischen Tätigkeit oder dem Bildungsprozess nicht untergeordneten) Praxis und einer kollaborativen künstlerischen Praxis.1

In den acht Jahren der Gemeinschaftsarbeit hat sich unsere Methodik um einige Schwerpunkte herum entwickelt:

  • Das Kulturobjekt wird als Ausgangspunkt für eine kritische Auseinandersetzung mit Themen rund um das Leben in der Stadt betrachtet.
  • Wir stellen mit Personengruppen aus der Zivilgesellschaft Objekte her und zeigen diese der Öffentlichkeit.
  • Wir bauen mit den beteiligten Personen eine langfristige Beziehung auf.
  • Wir verwenden Werkzeuge aus Bereichen ausserhalb der Kunst.
  • Wir wenden keine Modelle an, sondern passen uns dem jeweiligen Umfeld und der Gruppe an.

microsillons geht mit dem Begriff «Vermittlung» vorsichtig um, denn er enthält etymologisch den Gedanken einer Konfliktlösung (und deutet damit an, dass zwischen Betrachtern und Werken oder zwischen Nicht-Betrachtern und Institutionen eine Konfliktsituation besteht) und ist oft mit der Idee der Weitergabe verbunden.

Wir versuchen nicht, einen vorgefertigten Inhalt zu vermitteln, sondern Raum für einen Dialog zu schaffen, der offen ist für Unerwartetes.

Wenn unsere Projekte in Verbindung mit einer Kultureinrichtung verwirklicht werden, erhält dieser unvorhersehbare Teil ein kritisches Potential, aus dem sich Änderungsvorschläge entwickeln können. Es kann eine Wechselbeziehung entstehen: Die Einrichtung profitiert von unserer Arbeit und ihrem symbolischen Mehrwert, bildet aber auch die Grundlage für eine kritische Dekonstruktion.

Ein weiterer wesentlicher Aspekt unseres Vermittlungsansatzes ist das Anliegen, unsere praktischen Tätigkeiten mit Recherchen über die Verbindungen zwischen Kunst und Pädagogik zu verknüpfen. Ausgehend von diesem praktisch/theoretischen Ansatz vertreten wir eine Position, die man als «praktische Militanz» bezeichnen könnte, das heisst, wir sehen den Kulturarbeitenden als Person, die den gesellschaftlichen Wandel wahrnimmt und gesellschaftlich engagiert ist.

Das Kollektiv microsillons hat mit zahlreichen Einrichtungen zusammengearbeitet und war unter anderem von 2007 bis 2010 für die Vermittlungsprojekte des Centre d’Art Contemporain in Genf verantwortlich. Seine Gründungsmitglieder Marianne Guarino-Huet und Olivier Desvoignes leiten derzeit den Studiengang Bilden-Künste-Gesellschaft der Zürcher Hochschule der Künste und sind Doktoranden am Chelsea College of Art & Design in London. microsillons wurde 2008 mit einem Swiss Art Award ausgezeichnet.

1 Vorgehen, das zugleich mit der Praxis von kritischen Vermittlerinnen wie trafo.K, künstlerischen Praktiken ­wie denen von REPOhistory oder bereichsübergreifenden Einrichtungen wie dem Center for Urban Pedagogy in Verbindung gebracht werden kann.

Barbara Waldis

Ta ville, Ta rue … Ton art. Soziale Arbeit und kritische Kunstvermittlung im öffentlichen Raum

Seit 2009 leite ich ein Bachelor-Modul mit dem Titel «Art et Travail Social: Citoyennetés et Espaces Publics» im Studiengang soziale Arbeit der Westschweizer Fachhochschule. Entstanden ist das Unterrichtsangebot aus einer Zusammenarbeit mit der Schule für Gestaltung der Walliser Fachhochschule, die mitwirkenden Kunstschaffenden kommen aus dem Wallis, aus Frankreich und den USA. Die Dienststelle für Kultur von Monthey (VS) formuliert als Auftrag für das Unterrichtsangebot die Integration zwischen verschiedenen Gruppen und Institutionen in der Stadt und überlässt uns einen Teil des Foyers des «Théâtre du Crochetan» als Klassenzimmer.

Im Unterricht konzipieren, realisieren und reflektieren zukünftige Sozialarbeitende mit Fachpersonen der bildenden Kunst Projekte, welche die Aneignung des öffentlichen Raumes durch die Bevölkerung und ihre sozialen Beziehungen untereinander fördern.

So forderte beispielsweise das Projekt «Ta ville, Ta rue … Ton art» die Bevölkerung zum Nachdenken über die Qualität von Skulpturen und Bildern im öffentlichen Raum auf. Die Studierenden eruierten in einer Recherche bei der Gemeindeverwaltung von Monthey, beim Gemeindearchiv, in der Bibliothek und auf öffentlichen Plätzen, wie Skulpturen und Bilder ausgewählt, finanziert und präsentiert werden. Sie befragten mittels einer Performance rund hundert Personen, welche Skulptur im öffentlichen Raum am wenigsten gefällt und verhüllten dann die meistgenannte. Auf einem Poster fassten die Studierenden die Recherche und die Diskussionen mit der Bevölkerung zusammen. Die Ergebnisse können für ein Folgeprojekt verwendet werden.

Solche Projekte verbinden ästhetische Erfahrung und kritische Stellungnahme mit der Aneignung des öffentlichen Raumes. Dabei teilt die soziale Arbeit mit einem dialogischen Ansatz der Kunst das Anliegen, neue Einbindungsarten in der Gesellschaft aufzuzeigen. Während die Kunst etwa durch Verzerrung der Realität oder durch einen Perspektivenwechsel eine Veränderung der Sichtweise zu provozieren sucht, stellt die soziale Arbeit die Qualitäten der Personen und Gruppen ins Zentrum, um sie als Ressourcen in gemeinsam orchestrierten und nachhaltig gestalteten Aktionen für mehr soziale Teilhabe zu verwenden. Beide Ansätze bezwecken, die Autonomie und Handlungsfähigkeit von Individuen und Gruppen in der Gesellschaft zu stärken.

Barbara Waldis ist Professorin an der Fachchochschule Westschweiz, Wallis, Studiengang soziale Arbeit; zahlreiche Veröffentlichungen über transnationale Familienbeziehungen; seit vier Jahren Unterricht und Forschung über den Bereich bildende Kunst und Soziale Arbeit im öffentlichen Raum.

Arbeitsgruppe Vermittlung, Pro Helvetia

Was ist Kulturvermittlung?

Offenheit und Neugier gegenüber dem gesamten Spektrum der Kulturver­mittlung waren Voraussetzung für das vierjährige Programm, in welchem sich Pro Helvetia intensiv mit dieser Thematik auseinandersetzte. Die parallel dazu entwickelten Förderkriterien basieren auf dem Kultur­förderungs­gesetz und legen daher den Fokus auf die Kunstvermittlung. Zusammenfassend formuliert, konzentriert sich Pro Helvetia in der  Vermittlungs­förderung auf Projekte von hoher künstlerischer und vermittlerischer Qualität, welche das Publikum für eine eigenständige Auseinandersetzung mit den Künsten gewinnen und zur Weiterentwicklung der Vermittlungspraxis beitragen.

Die Grenzen zu benachbarten Tätigkeitsfeldern, wie etwa zur Bildung, zum Marketing und zur soziokulturellen Animation verlaufen nicht immer eindeutig. Vermittlung von Kunst an Kinder und Jugendliche ist ohne Zweifel von hoher Bedeutung, viele entsprechende Aktivitäten finden aber in der Schule oder in einem anderen Ausbildungskontext statt und fallen somit in den Bereich Bildung, für welchen Pro Helvetia nicht zuständig ist. Eine Website mit interaktiven Informationen über die aktuellen Angebote in Schweizer Museen kann zwar auch einen vermittelnden Nebeneffekt haben, da die Vermarktungsaspekte jedoch klar im Vordergrund stehen, entspricht ein solches Projekt nicht dem Auftrag von Pro Helvetia. Mit der sozio­­kultu­rellen Animation hingegen kann sich eine Schnittmenge ergeben, ­etwa wenn ein Projekt in einem Stadtquartier gleichzeitig die vertiefte Ausein­ander­setzung mit einer Kunstform anregt und das Gemeinschafts­gefühl stärkt.

Auch der Übergang zwischen Vermittlung und den Künsten selbst ist flexibel. Performative Kunst findet zunehmend auch im öffentlichen Raum statt, und die Beispiele für Projekte mit unkonventionellem Einbezug des Publikums werden zahlreicher: Aktuelle Formate bespielen Privat­wohnungen, Einkaufszentren, Fabriken und Fussballstadien; Performer lassen sich vom Publikum als Live-Avatare durch ein belebtes Computer­game lotsen; Passanten werden zu den Helden künstlerischer Installationen. In solchen Produktionen lösen sich die Grenzen auf: Erst durch die Partizipation des Publikums entsteht Kunst, Vermittlung findet immanent statt. Könnte man hier anknüpfen und die Vermittlungsaspekte gezielt weiterentwickeln? Als relativ neue Disziplin befindet sich die Kunstvermittlung in einem spannenden Entfaltungsprozess mit Potential in verschiedene Richtungen. Pro Helvetia lässt daher in den Kriterien, welche sie für die Vermittlungs­förderung definiert hat, bewusst Spielraum für diese kreative Energie – denn sie ist wichtig für eine innovative und dynamische Schweizer Kunst­vermittlung.

Die interdisziplinäre Arbeitsgruppe Vermittlung von Pro Helvetia war im Rahmen des Programms Kulturver­mittlung für die Entwicklung der Förderkriterien zuständig.

Bundesamt für Kultur (BAK), Sektion Kultur und Gesellschaft

Was ist Kulturvermittlung in der Förderpraxis des Bundes?

In der Praxis der Kulturförderung des Bundes wurde der Begriff Kulturver­mittlung seit jeher in verschiedener (und teilweise wider­sprüchlicher) Weise verwendet. Die per 2012 in Kraft getretene neue Kulturfördergesetzgebung hat in dieser Hinsicht eine Klärung gebracht:

Das Kulturförderungsgesetz (KFG) verwendet die Begriffe Kunst­ver­mittlung und Kulturvermittlung nebeneinander (Art. 1 KFG). Die Abgren­z­ung ergibt sich durch den jeweiligen Gegenstand beziehungsweise die Zuständig­keiten von Bundesamt für Kultur und Stiftung Pro Helvetia.

Kunstvermittlung ist mit einem ausdrücklichen Kompetenzartikel im Gesetz verankert (Art. 19 KFG). Die Kulturförderverordnung (KFV) führt aus: Als Massnahmen der Kunstvermittlung gelten Massnahmen, die das Publikum für eine eigenständige Auseinandersetzung mit den Künsten gewinnen und ihm so künstlerische Werke und Darbietungen näherbringen (Art. 8 KFV). Kunstvermittlung meint somit den gerichteten Umgang mit bestehenden Werken, Darbietungen oder künstlerischen Prozessen, mit dem Ziel, diese einem Publikum näher zu bringen und verständlich zu machen. Massnahmen in diesem Sinne sind Aufgabe der Stiftung Pro Helvetia.

Kulturvermittlung kann eine Kompetenz des Bundesamtes für Kultur sein, sofern sie im unmittelbaren Zusammenhang mit eigenen Förderungsmassnahmen steht (Art. 23 Abs. 1 KFG). In der Praxis gilt dies beispielsweise für die Erhaltung des kulturellen Erbes (Art. 10 KFG); diese umfasst nicht nur das Sammeln und Restaurieren von Kulturgut, sondern ebenfalls und mit gleicher Berechtigung dessen Erforschung, Erschliessung und Vermittlung. Es gilt beispielsweise auch für die Unterstützung von Organisationen kulturell tätiger Laien (Art.  14 KFG), denn die Laienorganisationen sind Bindeglieder zwischen der Bewahrung und der lebendigen Weiterentwicklung traditioneller Kulturformen. In den Förderungskonzepten zu beiden Bereichen ist deshalb Vermittlung – im Sinne der Anregung zu eigenständiger Auseinandersetzung mit Kulturgütern beziehungsweise kulturellen Praktiken – ein Beitragskriterium.

Der Vermittlungsbegriff des KFG deckt sich somit mit den im deutschen und französischen Sprachraum gängigen Gebrauchsweisen, welche die intellektuellen und emotionalen Austauschbeziehungen zwischen Kulturschaffenden, Werken, Institutionen und Publikum im Blick haben. Er ist klar zu trennen vom Begriffsfeld Diffusion, Promotion, Marketing (im Sinne der Verbreitung von Werken, Darbietungen oder künstlerischen Prozessen auf dem Markt).

Die Sektion Kultur und Gesellschaft kümmert sich um Fragen der kulturellen Bildung und der kulturellen Teilhabe, namentlich in den Bereichen Sprachförderung, Leseförderung, musikalische Bildung, Laien- und Volkskultur.