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Arbeiten in Spannungsverhältnissen 2:
Adressierung und das Paradox der Anerkennung

«Wie jedes soziale Projekt muss das Anerkennungsprojekt überhaupt, konkrete Projekte der Anerkennung im Einzelnen in den spezifischen Weisen verstanden werden, in denen sie sich zu Systemen der Macht verhalten. Sobald soziale Anerkennung als Forderung oder Vorhabe konkret wird, schließt sie aus.» (Mecheril 2000)

Wie im Text 1.FV beschrieben, ist eine der historisch gewachsenen Motivationen für Kulturvermittlung die Forderung, dass die Künste als Allgemeingut allen Mitgliedern einer Gesellschaft zugänglich sein sollen. In den letzten Jahrzehnten ist der Druck auf öffentlich finanzierte Kultureinrichtungen gewachsen, ihren Erfolg über Besucher_innenzahlen und über ein plural zusammengesetztes Publikum zu belegen. Gleichzeitig verstärkt sich die Konkurrenz mit anderen Angeboten des Freizeit- und des Bildungssektors. Diese Faktoren führen neben anderen dazu, dass Kultureinrichtungen – auch solche, für die der Gedanke einer Demokratisierung der Künste nicht unbedingt prioritär ist – sich  besucher_innen-orientiert ausrichten und über Vermittlungsangebote für spezifische Adressat_innen versuchen, ihr Publikum zu erweitern. Dabei werden gesellschaftliche Gruppen anvisiert, die nicht zum Stammpublikum der Institutionen gehören und von denen angenommen wird, dass sie einer aktiven Einladung bedürfen. Es handelt sich um Teile der Bevölkerung, die über vergleichsweise wenig  kulturelles und ökonomisches Kapital verfügen und die daher von einer privilegierten Position aus als «benachteiligt» oder «bildungsfern» gelten.

Die Adressierung solcher Gruppen durch die Kulturinstitutionen unterliegt einem Spannungsverhältnis, das der Migrationspädagoge Paul Mecheril mit Bezug auf Hegel «Paradox der Anerkennung» nennt ( Mecheril 2000). Einerseits erfolgt die Ansprache zumindest augenscheinlich mit dem Ziel, Gleichberechtigung her- oder zumindest ihre Möglichkeit in den Raum zu stellen. Andererseits aber bedingt Adressierung eine Identifizierung und damit eine Festschreibung der Angesprochenen als Andere, und eben gerade nicht als Gleiche. Dabei sind die jeweils vorgenommenen Identifizierungen weder zufällig noch neutral, sondern von den Perspektiven und Interessen der Einladenden geformt. Sie haben nicht nur die Funktion, das Andere herzustellen, sondern auch, das Eigene als angestrebte Norm zu bestätigen. Bei der Bezeichnung «bildungsfern» zum Beispiel stellt sich die Frage nach dem Bildungsverständnis, das es erlaubt, bestimmte Personen als fern davon zu verorten. In der Debatte um Kulturnutzung taucht dieser Begriff auf und meint (zumeist unausgesprochen) die fehlende Affinität zum anerkannten, bürgerlichen Bildungskanon.1 «Bildungsfern» wird also als Fremdbezeichnung von denjenigen verwendet, die davon ausgehen, dass die Bildung, über die sie verfügen, auch für andere gut ist. So betrachtet scheint die angestrebte «Gleichheit» im Kontext dieser und auch vieler anderer Adressierungen weniger Gleichberechtigung zu meinen als das Recht (oder die Pflicht?), sich denen, welche die Einladung aussprechen, anzugleichen. In der Diskussion um Zugang zum Arbeitsmarkt bezeichnet «bildungsfern» das Fehlen von zertifizierter Ausbildung und von Schulabschlüssen. Der Bildungswissenschafter Erich Ribolits wirft demgegenüber ein, dass «Bildung» gerade nicht Arbeitsmarktkompatibilität meine, und schlägt vor, darunter stattdessen die «Befähigung […], sich gegenüber den aus den aktuellen Machtverhältnissen resultierenden Systemzwängen der Gesellschaft behaupten zu können» zu verstehen. In diesem Sinne Gebildete würden «sich gegen die totalitäre Ausrichtung des Lebens an einer möglichst erfolgreichen Performance in Arbeit und Konsum stellen» und «die Natur nicht bloß als Ausbeutungsobjekt und Mitmenschen nicht nur als Konkurrenten wahrnehmen» ( Ribolits 2011). Einerseits, so Ribolits, müsse aus dieser Perspektive ein Grossteil der Bevölkerung als «bildungsfern» gelten. Andererseits fänden sich entsprechende Haltungen in verschiedensten Teilen der Gesellschaft und seien kausal weder an hohe Schul- oder Berufsabschlüsse noch an bürgerliche Kulturvorstellungen gekoppelt. Mit diesem Bildungskonzept liessen sich möglicherweise gerade auch Wissen und Können von Menschen mit wenig kulturellem und ökonomischem Kapital (z.B. ein dadurch forciertes Improvisations- oder Subversionsvermögen) als Merkmale einer Bildungselite interpretieren.

Während «Bildungsferne» zwar häufig zur Identifizierung, aber nie explizit zur Ansprache von Zielgruppen verwendet wird, weil sich davon wohl kaum jemand positiv angesprochen fühlen würde, gilt dies nicht für die immer häufiger auftauchende, um nichts weniger problematische Adressierung «Menschen mit Migrationshintergrund». In der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts (genauer: seit dem Attentat auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001) ist die Frage nach der Positionierung und den Handlungsmaximen von Kulturinstitutionen in der  Migrationsgesellschaft zentral geworden, wie sich an einer grossen Zahl von Projekten, Studien, Handreichungen und Konferenzen zeigt.2 Die von Akteur_innen der Kulturvermittlung – nicht zuletzt in Reaktion auf förderpolitische Vorgaben – vorgenommene Adressierung «Migrationshintergrund» verfehlt dabei die enorme Pluralität und Komplexität von Identitätskonstruktionen in Einwanderungsgesellschaften, weil sie sich vornehmlich an ganz bestimmte, ethnisch und national als «Andere» markierte Gruppen wendet. Konkret: Durch Kulturvermittlungsangebote sollen nicht etwa gutverdienende  Expats in das Kunstgeschehen hineingezogen werden, sondern eben als «mit Migrationshintergrund» identifizierte «Bildungsferne». Mecheril und andere Autor_innen machen deutlich, dass es sich bei dieser Form der Identifizierung um eine Kulturalisierung von strukturellen und sozialen Missständen handelt. Die durch die Strukturen der  Mehrheitsgesellschaft verursachten Effekte von sozialer, rechtlicher und politischer Ungleichbehandlung werden nicht thematisiert; stattdessen wird die zuvor festgeschriebene kulturelle Differenz der Eingeladenen selbst zum wichtigsten Erklärungsmuster für ihre Abwesenheit in den Institutionen. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich bei den Adressierten zunehmend Widerstand gegen die Adressierung als «Mimimi» (Mysorekar 2007) regt. Beispielsweise wurde im Herbst 2011 von der  Tiroler Kulturinitative), ein Workshop unter dem Titel «Antirassismus und Kulturarbeit» angeboten:3

«Mittlerweile ist in ‹kritischen› bzw. antirassistischen Kontexten mehr oder weniger Konsens, dass sich die öffentlichen Migrationsdebatten von den Migrant_innen auf die Probleme der Gesellschaft verschieben sollen: nicht über ‹bildungsferne› Migrant_innen reden, sondern über die Misere und rassistischen Strukturen des Bildungssystems; nicht über Migrant_innen, die das Sozialsystem ausnutzen, sondern über Mechanismen, die ausgrenzend wirken etc. Auch hat sich die Migrationsdebatte stark auf Migrant_innen aus muslimischen Ländern verschoben: War vor ein paar Jahren noch die Rede von Migrant_innen mit türkischen Eltern bzw. Großeltern, ist jetzt die Rede von muslimischen Migrant_innen.

Fragen, ausgehend vom Umstand, dass Kulturarbeit diskursbildend ist:

Neben diesen Fragen sollten im Workshop auch folgende Fragestellungen bearbeitet werden:

Im Jahr 2012 wiederum wurde eine Petition unter dem Titel  Stopp mit dem falschen Gerede vom Migrationshintergrund gestartet.

Selten besteht bei den einladenden Institutionen der Gedanke beziehungsweise die Bereitschaft, für die Adressierten auch strukturell, auf der Ebene von Programmgestaltung und Berufstätigkeit Platz zu machen. Nicht nur in der Schweiz sind die entscheidenden Stellen in Kulturinstitutionen fast ausschliesslich von  weissen Mehrheitsangehörigen besetzt.4 An dieser Stelle scheint eine weitere Dimension des Paradoxes auf: Einerseits wird durch die Adressierung der oder die «Andere» hergestellt, Ungleichheit also manifestiert. Andererseits lässt sich an bestehenden Ungleichheiten nur etwas ändern, wenn entlang eben dieser Ungleichheitskategorien aktiv Gegensteuer gegeben wird. Mit Bezug auf Simone de Beauvoir5 betont Mecheril (2000), dass ein sinnvoller Umgang mit dem Paradox der Anerkennung nicht darin bestehen kann, so zu tun, als gäbe es keine Unterschiede. Ein Verzicht auf Kategorien leistet dem Weiterbestehen von Benachteiligung genauso Vorschub wie deren Festschreibung. Darüber hinaus wäre das Bedürfnis von Menschen, sich zu unterscheiden und sich selbst in Zugehörigkeiten zu verorten, zu respektieren, ohne sie auf diese Verortung zu reduzieren. Dies nicht zuletzt, weil es sich bei identitären Selbstzuordnungen um eine Form des psychischen und physischen Selbsterhalts im Sinne eines  strategischen Essentialismus (Spivak 1988) handeln kann. Und auch, weil Identifikationsangebote gesamtgesellschaftlich hergestellt werden: Migrantische Kulturschaffende sind mit der Erwartung konfrontiert, sich in ihrer künstlerischen Arbeit auf ihre Herkunft zu beziehen ( Terkessidis 2011). Der Rückbezug auf die «Herkunft» ist die häufigste und unausweichliche Zuordnungsmöglichkeit, welche die Mehrheitsgesellschaft unterbreitet.  People of Colour müssen ihr Leben lang die Frage nach ihrer Herkunft beantworten, unabhängig davon, ob sie dies als höfliches Interesse an ihrer Person oder als beleidigend und lästig empfinden. Ein schlichtes «Schweiz», «Bern» oder «aus Mutti» reicht dabei nur in den seltensten Fällen als Antwort, um die Wissbegier zu befriedigen ( Winter Sayilir 2011;  Kilomba 2006).

Zu den Eigenschaften eines Paradoxes gehört es, dass man ihm nicht entkommt. Jedes Bemühen um Zugangsgerechtigkeit im kulturellen Feld, jeder pädagogische Versuch, Minorisierung, Benachteiligung und Ausgrenzung zu bekämpfen, verstrickt sich zwangsläufig in Widersprüche. Dennoch existieren interessantere und informiertere (zeitgemässere, angemessenere) Weisen des Umgangs mit diesen Widersprüchen neben anderen. Mecheril schlägt «kommunikative Reflexivität» als professionelle Haltung für das Handeln im Paradox vor: «Professionelle Handlungen und Strukturen werden daraufhin befragt, inwiefern sie zu einer Ausschließung des Anderen und/oder zu einer reproduktiven Erschaffung des Anderen beitragen. […] Kommunikative Reflexivität – als das Medium, in dem sich eine Anerkennungspädagogik entfalten kann […] meint weiterhin, dass das auf Veränderung zielende Nachdenken über die Verhinderungs- und Produktionsbedingungen des und der Anderen einen kommunikativen Vorgang bezeichnen sollte, der […] die Anderen mit einbeziehen sollte» (Mecheril 2000, S.11).

Es geht also nicht nur um einen reflexiven Umgang mit den eigenen Begriffen, Strukturen und Handlungsweisen, sondern um eine Reflexion und Aktion gemeinsam mit den jeweils Adressierten. Was bedeutet dieser Ansatz für Einladungspolitiken in der Kulturvermittlung? Wenn sie nicht nur zum Ziel haben, höhere Publikumszahlen zu erzeugen (und die Kultur und ihre Institutionen dabei möglichst unverändert zu lassen), sondern wenn es erklärtermassen um die Schaffung von Zugangsgerechtigkeit geht? Zunächst wird deutlich, dass kommunikative Reflexivität mit einer von der Marktforschung her gedachten Zielgruppenansprache allein nicht zu leisten ist. Wenn die Reflexion und Zusammenarbeit mit den Anzusprechenden als eine Grundbedingung für die Herstellung von Zugangsgerechtigkeit im künstlerischen Feld anerkannt wird, reicht es nicht mehr aus, empirisches Wissen über eine vordefinierte Gruppe anzusammeln, um auf dieser Basis Angebote für diese Gruppe zu entwerfen. Bei den ins Visier Genommenen handelt es sich unter diesen Vorzeichen nicht mehr nur um potentielle Konsument_innen eines kulturellen Angebots, sondern um Partner_innen in einem zusammen zu gestaltenden Veränderungsprozess, der das Selbstverständnis der Anbietenden nicht unberührt lässt.

Ein Beispiel für ein in die angedeutete Richtung erweitertes Konzept der Ansprache ist das vom englischen Arts Council vorgeschlagene Modell der «Arts Ambassadors» ( Arts Council England 2003). Dabei handelt es sich um Repräsentant_innen von lokalen Bevölkerungsgruppen, die für die Institution im Sinne einer Pluralisierung ihrer Publikumsschichten von Interesse sind. Arts Ambassadors informieren einerseits durch Mundpropaganda über die Aktivitäten der jeweiligen Institution. Vor allem aber kommunizieren sie die Perspektiven und Bedürfnisse dieser Interessensgruppen in die Institution hinein. Es geht für die Kultureinrichtungen darum, mit Hilfe eines auf Methoden der Aktionsforschung basierenden Ansatzes der Konsument_innenforschung Wissen über Interessenslagen und Bedürfnisse der jeweiligen Bevölkerungsgruppe zu gewinnen und im Rahmen dieser Konsultation entsprechende Angebote zu entwickeln. Seitens des Arts Councils wird darauf verwiesen, dass sich das Potential des Ansatzes dann am besten entfaltet, wenn die Beziehung zwischen den Vertreter_innen der Institution und den Ambassadors auf einem gegenseitig gleichermassen interessierten Austausch von Wissen und Informationen basiert. Die Arts Ambassadors sind Repräsentant_innen ihrer lokalen beziehungsweise gesellschaftlichen Interessensgruppe, die bestenfalls auf die Praxis im künstlerischen Feld Einfluss nehmen. Die Kooperationsform konzentriert sich stark auf die Bedürfnisse der jeweiligen Interessensgruppe und damit auf die Veränderungspotentiale für die Institution: «The ambassador approach requires commitment and can even bring about fundamental changes in the host organisation» (Arts Council 2003, S.3). Der Arts Council empfiehlt die Funktion der Ambassadors als Repräsentant_innen der Institution nach aussen ausdrücklich nur in Zusammenhang mit einer Anstellung der Ambassadors, das heisst gebunden an von der Institution garantierte Bezahlung und soziale Sicherheit. Eine Funktionalisierung von ehrenamtlichen Kräften allein für die Stabilisierung und den Ausbau der bestehenden institutionellen Verhältnisse und Selbstverständnisse wird unter dem Aspekt der Gegenseitigkeit als nicht adäquat beschrieben.

Mit diesem Hinweis soll einer weiteren häufig zu konstatierenden Verkomplizierung vorgebeugt werden, der Ausbeutung des Wissens und Könnens der «Anderen» für den Fortbestand und die Wissenserweiterung der Kulturinstitution, wobei die Gegenleistung ausschliesslich in dem symbolischen Mehrwert besteht, den die Institution zu bieten hat. Obwohl der Ansatz der Ambassadors stärker im Marketingbereich als in der Vermittlung angesiedelt ist, ist also für sein Gelingen ein zentraler Aspekt pädagogischer Reflexivität notwendig: das Wissen um die  Verletzungsgewalt ( Castro Varela o.D., die eine Kultureinrichtung oder auch nur eine Kulturvermittlungsperson aufgrund ihres symbolischen Kapitals besitzt, und ein verantwortungsbewusster Umgang mit dieser Macht. Um Paternalismus zu vermeiden, geht es auch hier wieder um kommunikative Reflexivität: gemeinsam mit den Angesprochenen herauszufinden, was die gegenseitigen Interessenlagen sind, und klare Absprachen zu treffen, wer aus der Zusammenarbeit was gewinnt. Sowie immer wieder Raum zu schaffen, damit sich diese Verständigung und auch die Bearbeitung von Konflikten ereignen kann – Raum für die «Fähigkeit, sich irritieren zu lassen» (Castro Varela o.D., S.3). Bei der Reflexion von Macht in diesem Modell ergibt sich darüber hinaus die Frage, wie und vom wem die Vertreter_innen der jeweiligen Gemeinschaft, die als Ambassadors die Schnittstelle zur kulturellen Einrichtung bilden, ausgewählt werden und welche Effekte dies auf die Zusammenarbeit hat.

Das beschriebene Paradox der Anerkennung, die eine Identifizierung und damit eine Festschreibung voraussetzt, bleibt bei diesem Zugang weiter bestehen: Um eine Gruppe zu finden, die für eine Zusammenarbeit angesprochen werden soll, muss eine Zuschreibung vorgenommen werden. Durch die Formen der Adressierung kann eine Kulturinstitution kommunizieren, dass sie sich aktiv mit der Problematik der Zu- und Festschreibung von identitären Positionen durch die Definition von Zielgruppen auseinandersetzt. Dies beginnt schon, indem bestimmte Begriffe verwendet oder nicht verwendet werden. Dadurch kann deutlich gemacht werden, dass die Institution über die Gefahr der  Essentialisierung informiert ist. So spricht ein Angebot für «Menschen mit Lebenserfahrung» grundsätzlich alle an, die sich selbst eine solche zuweisen, und es ergeben sich möglicherweise interessantere Konstellationen, als wenn ausschliesslich «Senior_innen» teilnehmen würden. Weitergehend sind Versuche der Ansprache, bei denen gängige Zugehörigkeitsordnungen durch den Einsatz unerwarteter Kategorien verschoben werden. So können potentielle Interessensgruppen anstatt von demografischen Allgemeinplätzen (Herkunft, Alter, Familienstand) vom Vermittlungs- oder Angebotsinhalt her eingeladen werden, wie etwa bei den Vermittlungsprojekten der documenta 12 in Kassel, wo unter anderem Menschen, die sich von Berufs wegen mit dem Tod beschäftigen, zu einem Workshop über das Motiv des «nackten Lebens» in der Ausstellung eingeladen wurden (Gülec et al. 2009, S.111 ff.).

Versteht sich eine Kultureinrichtung weniger als Produzentin eines Angebots, das vermarktet wird, sondern mehr als mitgestaltende Akteurin – nicht nur im künstlerischen Feld, sondern auch in ihrem lokalen Kontext –, so werden Formen der Ansprache notwendig, die über eine Zielgruppenorientierung hinausgehen und stattdessen auf die Initiierung von Zusammenarbeit zwischen der Institution und verschiedenen Öffentlichkeiten zielen. Die oben zitierten Fragen aus dem Workshop der Tiroler Kulturinitative machen es deutlich: Der konsequenteste Umgang mit dem Paradox der Adressierung am Beispiel «Migrationshintergrund» ist eine Verschiebung der Perspektive weg vom «Migrationsanderen» auf die Kulturinstitutionen selbst als Bestandteil der Migrationsgesellschaft, auf ihre strukturell bedingten Ausschlussmechanismen, auf ihr Transformationspotential. Und auf ihre Rolle als gesellschaftliche Akteurin, die sich mit den Anliegen der von ihr Adressierten solidarisiert, anstatt von ihnen zu erwarten, sich ihr anzupassen, oder sich selbst durch das vermeintliche Anderssein der Eingeladenen ein bisschen «bunter» zu machen.

1 Eines von vielen Beispielen aus der Entstehungszeit dieses Textes: «So bieten mittlerweile einige deutschsprachige Musikhochschulen Aus- und Weiterbildungsangebote zur Musikvermittlung an, die auf die unterschiedlichen Arbeitsbereiche für Zielgruppen von jung bis alt, von ‹einheimisch› bis ‹postmigrantisch› und von bildungsnah bis bildungsfern vorbereiten sollen» (Wimmer 2012).

2 Einige Beispiele: Tagungen: «inter.kultur.pädagogik», Berlin 2003; «Interkulturelle Bildung – Ein Weg zur Integration?», Bonn 2007; «Migration in Museums: Narratives of Diversity in Europe», Berlin 2008; «Stadt Museum Migration», Dortmund 2009; «MigrantInnen im Museum», Linz 2009; «Interkultur. Kunstpädagogik Remixed», Nürnberg 2012; «Forschung /Entwicklung: Creating Belonging», Zürcher Hochschule der Künste, gefördert von SNF 2008–2009; «Migration Design. Codes, Identitäten, Integrationen», Zürcher Hochschule der Künste, gefördert von KTI 2008–2010; «Museums as Places for Intercultural Dialogue», EU-Projekt 2007–2009; «Der Kunstcode – Kunstschulen im Interkulturellen Dialog», Bundesverband der Jugendkunstschulen und Kulturpädagogischen Einrichtungen e. V. (BJKE), gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung 2005–2008; «Museum und Migration: Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund als Zielgruppe von Museen», Linzer Institut für qualitative Analysen (LIquA), im Auftrag der Stadt Linz und des Landes Oberösterreich, Abteilung Soziales und Institut für Kunst und Volkskultur 2009–2010. Publikationen und Handreichungen: Handreichung zum Schweizerischen Museumstag 2010; Allmanritter, Siebenhaar 2010; Zentrum für Audience Development der FU Berlin: Migranten als Publika von öffentlichen deutschen Kulturinstitutionen – Der aktuelle Status Quo aus Sicht der Angebotsseite, 2009, → http://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/zad/news/zadstudie.html [16.4.2012]

3 Der Workshop wurde von Vlatka Frketic geleitet.

4 Mit «Mehrheitsangehörige» werden in diesem Text Schweizer Bürger_innen unabhängig von der Sprachregion bezeichnet.

5 «Wenn man die Begriffe des Ewigweiblichen, der Schwarzen Seele, des Jüdischen Charakters ablehnt, so heißt das nicht leugnen, dass es heute Juden, Schwarze und Frauen gibt: Diese Verneinung bedeutet für die Betroffenen keine Befreiung, sondern nur eine unendliche Ausflucht» (Beauvoir 1968, S.9).

Literatur und Links

Der Text basiert in Teilen auf folgendem bereits erschienenen Beitrag:

Weitere Literatur:

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