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6.5 Legitimation: Die Künste als Bildungsgut

«Arts Education programmes can help people to discover the variety of cultural expressions offered by the cultural industries and institutions, and to critically respond to them», heisst es in der  UNESCO Roadmap for Art Education, die aktuell als Lobbyingpapier für Kulturvermittlung in weiten Teilen der Welt Beachtung findet und auch konkrete Wirkungen auf die internationalen Bildungs- und Kulturpolitiken zeitigt. Im gleichen Dokument wird darauf hingewiesen, dass die Beschäftigung mit den Künsten in der UN-Deklaration der Menschenrechte als universelles Menschenrecht festgeschrieben ist und daher allen ermöglicht werden muss. Diese Legitimationsstrategie basiert auf einem Verständnis der Künste als universell wertvollem Bildungsgut. Sich mit ihnen zu beschäftigen ist aus dieser Perspektive grundsätzlich für jede_n positiv, unabhängig davon, mit welchen Interessen, Überzeugungen, Lebensstilen, Bedingungen und Zielen eine Person ausgestattet sein mag. Diejenigen, die dies nicht von alleine erkennen, sind durch Kulturvermittlung  an die Künste heranzuführen. Da es viele solche Menschen gibt, müssen – so die Argumentation – auch entsprechende Ressourcen in die Vermittlung fliessen.

Die Auffassung der (hohen) Künste als Bildungsgut, das grundsätzlich positiv für alle Menschen und an alle Menschen gerichtet sei, ist historisch gesehen eine Erscheinung der Aufklärung. Sie ist bereits in den Schriften zur ästhetischen Erziehung von Friedrich Schiller Mitte des 18. Jahrhunderts artikuliert ( Schiller 1759). Sie etablierte sich – nicht zuletzt durch den Einsatz der Reformpädagogik für die Anerkennung der  musischen Bildung – zu Beginn des 20. Jahrhunderts als fester Bestandteil des bürgerlichen Bildungsbegriffs. Bis heute ist sie eine massgebliche Legitimation für Kulturvermittlung und darüber hinaus für Kulturförderung überhaupt, die in ganz Europa (und auch weit darüber hinaus, wie unter anderem die globale Präsenz der oben erwähnten UNESCO Roadmap for Art Education zeigt) präsent und wirksam ist.

Bei dem Postulat, die Künste seien per se gut für «die Menschen», muss entsprechend als Einwand gelten, dass damit eine zumindest implizite Vermittlung bürgerlich-westlicher und mitunter explizit nationalistischer Wertvorstellungen verbunden ist. Ein anschauliches Beispiel für Letzteres ist eine  Rede der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, in der sie postulierte: «Kunst und Kultur geben uns ein Gefühl dafür, wo wir herkommen, wo wir zu Hause sind und wie sich unsere Identität zusammensetzt. Sie dokumentieren in hohem Maße Zusammengehörigkeit und fördern den Zusammenhalt einer Gesellschaft. Das heißt also, Kultur ist das einigende Band für unser Deutschland. Deshalb sprechen wir auch nicht umsonst von der Kulturnation Deutschland.»

Ebenfalls zu bedenken ist die Kritik, dass es grundsätzlich bevormundend sei, von irgendeiner Seite vorschreiben zu wollen (sei es vom Staat, der Politik, den Expert_innen einer Bildungselite oder der Gesellschaft als Ganzes), dass die  Beschäftigung mit den Künsten prinzipiell und für alle wichtig und gut sei.