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Arbeiten in Spannungsfeldern 5:
Zwischen Vermittlung, Kunst, Dekonstruktion und Transformation

«It’s not a question of being against the institution: We are the institution. It’s a question of what kind of institution we are, what kind of values we institutionalise, what forms of practice we reward, and what kinds of rewards we aspire to. Because the institution of art is internalised, embodied, and performed by individuals, these are the questions that institutional critique demands we ask, above all, of ourselves.» (Fraser 2005)

Kulturvermittlung als  Dekonstruktion (Sturm 2001) mit partizipatorischen und künstlerischen Zugängen sowie dem Anspruch, durch Vermittlung die Machtverhältnisse in Kulturinstitutionen zu analysieren und gegebenenfalls auch verändernd auf sie einzuwirken, ist zwar eine vergleichsweise seltene, aber keine neue Erscheinung. Zu ihren Vertreter_innen gehörten Ende der 1990er Jahre in Deutschland die Gruppe  Kunstcoop© an der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst Berlin (NGBK 2001) und in Österreich die Gruppe «Stördienst» am Museum moderner Kunst Wien; gegenwärtig in der Schweiz das Kollektiv  microsillons, in Österreich das Büro  trafo.K, oder in Spanien das Duo  Transductores. Gemeinsames Kennzeichen dieser Organisationen ist die kontextspezifische Entwicklung von Kunstvermittlung zwischen pädagogischem, politischem und künstlerischem Handeln, im Austausch und in Reibung mit Institutionen sowie mit unterschiedlichen Interessensgruppen. Eine wichtige Referenz für ihre Praxis bilden künstlerische Bewegungen, die ihre Arbeit im gleichen Spannungsfeld verorten. So zum Beispiel die englische  Artist Placement Group aus den 1960er Jahren, die sich wiederum auf Beispiele der russischen Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts bezog, bei denen Künstler_innen mit Fabrik- oder Landarbeiter_innen in Kooperation traten. (Rollig 2002). Spätestens in den 1990er Jahren entwickelte sich durch das partizipative Paradigma der New Genre Public Art (Jacob 1995, Lacy 1994, zur Reflexion im deutschsprachigen Raum Babias 1995) ein internationales Praxisfeld, in dem Kunst, pädagogische sowie sozial- und repräsentationspolitische Arbeit nicht nur schwer voneinander zu trennen sind, sondern in dem deren Grenzüberschreitung programmatisch betrieben wird. Die hier umrissene Bewegung in der Kunstvermittlung formierte sich in den 1990er Jahren nicht zuletzt in Abgrenzung von der einer Museums- und Kunstpädagogik, die weitgehend auf der Basis von Entwicklungspsychologie und Kreativitätstheorien argumentiert. Kritik entzündet sich unter anderem daran, dass ein Zugang, der ausschliesslich versuche, zu begeistern und zu berühren, der Kunst genauso wie den Teilnehmenden nicht gerecht werde, weil er ihre produktiven Widerstände und Erkenntnispotentiale einebne. Ein weiterer Punkt der Kritik sind die mit einem allein auf individuelle Entfaltung abzielenden Zugang verbundenen  Ausschlussmechanismen.

Seit den 1990er Jahren kamen nicht nur aus der Kunst, sondern auch von der deutschsprachigen Kunstpädagogik selbst Impulse, welche zum einen die Autonomie und Kunstspezifik von Vermittlung betonten und zum anderen auf die Bildungspotentiale zeitgenössischer Kunstproduktion verwiesen. Der Ansatz der «ästhetischen Bildung der Differenz» (Maset 1995) beispielsweise legt der Vermittlung die künstlerische Tradition nicht-instrumentellen Denkens nahe und versteht Kunstpädagogik als eine mögliche Praxisform von Kunst. Hier wird Kunstvermittlung zur widerständigen Instanz gegen die Tendenz, sie als kapitalisierbare Dienstleistung zu sehen – gegen die nahtlose Weitergabe von Fachwissen genauso wie gegen die Optimierung des Sozialverhaltens der an ihr beteiligten Akteure.

Ein drittes impulsgebendes Feld für eine Kunstvermittlung mit dekonstruktiver Funktion ist die kritische Museologie und die New Art History. Diese befragen seit den 1970er Jahren das durch Museen repräsentierte kanonische Wissen und die Art, wie es vermittelt wird, auf Machtverhältnisse hin. Die Anordnungen der Objekte, die Raumordnungen und Verhaltensregeln in Museen werden bei diesem Zugang unter anderem mit Rückgriff auf die Analysen zur Produktion von sozialer Ungleichheit durch Pierre Bourdieu (Bourdieu 1982), auf Michel Foucaults Arbeiten zu Macht, Wissen und Disziplinierung (Bennett 1995; Duncan 1996) sowie auf die Zeichentheorie (Barthes 2003) als Texte gelesen, die es zu dekonstruieren gilt.1 Ihre Ökonomien, ihre geschlechtlichen und  ethnisierenden Codes sowie die historischen und sozialen Bedingungen ihrer Entstehung werden dabei in dem Bewusstsein analysiert, dass es kein abschliessbares kritisches Instrumentarium geben kann, sondern dass jede Lesung wieder neue Texte produziert. Eine Tagung in der Tate Britain von 1992 trug den Titel «Gallery Education and The New Art History» (Vincentelli 1992). Ihre Leitfrage lautete: «How can gallery educators involve themselves in analysing or deconstructing their own galleryʼs practice?» Die Kunsthistorikerin Frances Borzello wies in ihrem Beitrag darauf hin, dass eine besondere Herausforderung und Kapazität der Kunstvermittlung darin läge, dass sie vor der Materialität der von der New Art History kritisch analysierten Werke und den Räumen der musealen Repräsentation nicht in akademische Sprachräume ausweichen könne. Stattdessen müsse sie im Umgang mit dem Publikum und dem Material Sprachen entwickeln, die den – ebenfalls ausschliessenden – Diskurs der New Art History demokratisieren (Borzello 1992, p.10). (Auf diese Weise dekonstruierte Borzello vor einer museumspädagogischen Zuhörer_innenschaft ihre eigenen Wissenschaftszusammenhänge und argumentierte implizit gegen die (auch heute noch festzustellende) traditionell abgewertete Position der Vermittlungsarbeit. Entgegen dem Klischee, Kunstvermittlung führe zwangsläufig zu einer Simplifizierung von Inhalten, wies sie auf die mit der Anforderung des sprachlichen Registerwechsels verbundene Komplexitätssteigerung hin. Diese Lesart ist bereits informiert von dem in den 1980er Jahren in der New Art History (Borzell, Rees 1986) und der New Museology (Vergo 1989; Hauenschild 1988) erhobenen Anspruch, durch den aktiven Einbezug bislang von Museen weitgehend ausgeschlossener Gruppen Gegenerzählungen (Giroux et al. 1994) zu produzieren und das Museum zu einem Ort der Interaktion und der Debatte zu machen.

Im 21. Jahrhundert führten die oben angeführten diskursiven und praktischen Feldüberschneidungen zwischen Vermittlungspraxis, Kunst, Kunstwissenschaft und Museologie zu einem  Educational Turn ( Rogoff 2008; O’Neill, Wilson 2010) im Ausstellungswesen – einem wachsenden Interesse von Ausstellungsmacher_innen und Künstler_innen an pädagogischen Formaten und Fragestellungen. Dieses Interesse wurde auch durch die Kritik am marktorientierten Umbau des europäischen Bildungswesens, insbesondere im Zuge der im Jahr 2000 verabschiedeten  Lissabon-Strategie der EU befördert. Projekte und Texte im Rahmen des Educational Turn sind daher häufig mit einer Kritik an der Ökonomisierung von Wissen und insbesondere von künstlerischer Bildung und Ausbildung sowie mit einer Suche nach alternativen Räumen und Praktiken der Bildung verknüpft. Entsprechend gross ist die Aufmerksamkeit für Ansätze der kritischen Pädagogik, wobei das Spektrum der Bezugnahmen sehr unterschiedliche Positionen, von Paulo Freire (Freire 1973) über bell hooks (hooks 2003) bis Jacques Rancière (Rancière 2007) umfasst. Auf der Praxisebene artikuliert sich der Educational Turn zum Beispiel in pädagogischen Formaten wie Ausstellungsprogrammen, die das Publikum zur mitgestaltenden Instanz erklären (siehe z.B. das Projekt  Wide Open School der Hayward Gallery in London im Sommer 20122, in der Re-Aktualisierung von historischen Formen wie dem Brecht-Weill’schen Singspiel (vgl. z.B. die Inszenierungen des Petersburger Kollektivs  Chto delat?), in der Verschränkung der Produktion von künstlerischen und didaktischen Materialien (vgl. hierfür die zum Download bereitstehenden Videos und Comics des Kollektivs  Pinky Show, die u.a. von Lehrpersonen für den Unterricht verwendet werden, in selbstorganisierten Räumen künstlerischer Bildung (z.B. die  parallel school of art; die  freie/langsame Universität Warschau) oder in künstlerischen Projekten, welche die Bedingungen des Lernens untersuchen (z.B. die Arbeit  Hidden Curriculum der Künstlerin Annette Krauss in Zusammenarbeit mit Schüler_innen aus niederländischen Schulen (Krauss o. D.).

Zwischen den Inhalten, Absichten und Praktiken einer  dekonstruktiv oder auch  transformativ ausgerichteten Kunstvermittlung einerseits und den künstlerischen und kuratorischen Befragungen im Rahmen des Educational Turn andererseits gibt es zahlreiche Überschneidungen. Dennoch wurde seitens der Künstler_innen und Ausstellungsmacher_innen die in der Vermittlung geleistete Arbeit und das dort vorhandene Wissen bisher selten zur Kenntnis genommen ( Sternfeld 2010; Mörsch 2011; schnittpunkt 2012). In dieser Ignoranz spiegelt sich eine traditionelle Hierarchie zwischen den Feldern Kunst und Bildung. Es bleibt zu hoffen, dass in der Zukunft an immer mehr Orten eine Zusammenarbeit möglich wird. Denn es existieren korrespondierende, gemeinsam zu bearbeitende Spannungsfelder und damit potentiell produktive Verknüpfungsmöglichkeiten der kuratorischen, künstlerischen und vermittlerischen Wissensproduktion. Eines betrifft die  Spannung zwischen der Produktion von Ausschlüssen und dem Paternalismus gezielter Einladungs- und Inklusionspolitiken. An dieser Stelle wäre eine Allianzbildung im Sinne eines gemeinsamen Reflektierens und Entwickelns von Handlungsmöglichkeiten aus den verschiedenen professionellen Perspektiven sehr sinnvoll. Ebenso bei einem weiteren Spannungsfeld, welches den Wunsch der Kooperation auf Augenhöhe betrifft. Wenn eine Kulturinstitution sich in Kooperation zum Beispiel mit einer kleinen Bildungseinrichtung begibt, so tut sie das aus einer machtvollen Position heraus. Diese ist nicht immer materiell begründet, sondern zuvorderst im  kulturellen und sozialen Kapital. Daher ist eine aktive Arbeit an der Herstellung von Verhältnissen auf Augenhöhe notwendig, die von der Institution in Kooperation mit ihren jeweiligen Partner_innen betrieben werden müsste. Alle drei professionellen Felder, das Kuratieren/die Programmgestaltung, die auf Partizipation und Bildung ausgerichtete Kunstproduktion und die Vermittlung teilen Erfahrungen wie die, dass aktiv ein Projekt Mitgestaltende leicht zum «Material für Projekte» degradiert werden können. Oder dass eine ausgeglichene Interessenslage unversehens in die Ausbeutung von Arbeitskraft mit dem Argument symbolischer Entschädigung umkippen kann. Ein multiperspektivisches Nachdenken und Entwickeln von Handlungsoptionen könnte dazu beitragen, die Selbstreflexivität und das Fällen bewusster und begründeter Entscheidungen zu fördern.

Mit dem Nachdenken über das Agieren in Machtverhältnissen verbunden ist ein drittes Spannungsfeld. Dieses betrifft die Frage nach den Ästhetiken von Projekten an der Schnittstelle von Kunst und Bildung. Während Kulturinstitutionen ein hochempfindliches Sensorium gegenüber der – je nach Institution «guten» oder eher «coolen» – Form pflegen, sind die von Teilnehmenden und Kooperationspartner_innen gewünschten Selbstrepräsentationen oder hergestellten Produkte möglicherweise nicht immer mit diesen Ansprüchen vereinbar. Es treffen hier unterschiedliche Notwendigkeiten, Qualitätsvorstellungen und Interessen in Bezug auf Darstellungsweisen aufeinander. Von institutioneller Seite her heisst die Antwort auf diese Spannung bislang häufig Einverleibung oder Ausschluss: Entweder ein Projekt passt sich den Gestaltungsparametern des im jeweiligen künstlerischen Feld Anerkannten an, oder es wird nicht sichtbar oder findet gar nicht erst statt. Selbstreflexive Vermittlung dagegen versucht, die ästhetischen Artikulationen aller Beteiligten ernst zu nehmen. Dies geht jedoch zuweilen zu Lasten einer informierten und elaborierten formalen Gestaltung von Sichtbarkeit, die wiederum dem Projekt und seinen Akteuren in vielen Fällen nützen könnte. Auch bei dieser Gratwanderung und den damit verbundenen Aushandlungsprozessen würde ein Austausch zwischen Vermittlung, kuratorischer und künstlerischer Praxis möglicherweise zu interessanten Ergebnissen führen. Ein Beispiel aus der Vermittlungs- und Kooperationspraxis zwischen einer selbstorganisierten Gruppe und einer grossen Ausstellungsinstitution soll Ansätze für den Umgang mit den genannten Spannungsfeldern aufzeigen.

In den Jahren 2009 und 2010 fand in der Schweiz das Forschungs- und Entwicklungsprojekt «Kunstvermittlung in Transformation» statt (Settele et al. 2012). Darin arbeiteten vier Kunsthochschulen mit sechs Museen zusammen, um die Vermittlung an den Museen forschend weiterzuentwickeln. Das Institute for Art Education (IAE) der Zürcher Hochschule der Künste kooperierte in diesem Rahmen mit dem Museum für Gestaltung Zürich und entwickelte verschiedene Pilotprojekte. Eines bestand aus einer Kooperation von Nora Landkammer, wissenschaftliche Mitarbeiterin am IAE, mit dem Verein «Bildung für Alle» und dessen Projekt  Autonome Schule, ( Text 4.4).3 Die Autonome Schule bietet Deutschkurse und andere Aktivitäten für Menschen an, die ausgeschlossen vom formalen Bildungssystem in Zürich leben. Nora Landkammer kontaktierte die Organisation in Zusammenhang mit dem Plan, zu der Ausstellung  Global Design des Museums für Gestaltung, die sich mit den Auswirkungen der Globalisierung auf Gestaltung auseinandersetzte, ein Vermittlungsprojekt zu entwickeln. Die Ausstellung sollte Anlass für eine Auseinandersetzung über Globalisierung und Visualität werden, bei der alle Beteiligten – auch das Museum – lernen würden. Schon durch die Ansprache einer kleinen, auf freiwilliger Arbeit basierenden Selbstorganisation migrantischer und nichtmigrantischer Akteure seitens einer Forschungsinsitution, die an einer grossen Kunsthochschule angesiedelt ist, befand sich dieses Projekt in dem genannten Widerspruch, Augenhöhe von einer Machtposition aus herstellen zu wollen. Im konkreten Fall wurde dieser Widerspruch zum einen dadurch gestaltbar (nicht auflösbar), dass die Gruppe im Umgang mit ungleichen Machtverhältnissen sehr bewusst agierte, ebenso die Kunstvermittlerin. Gleich zu Beginn stellte die Gruppe die Frage nach der Rollenverteilung in dem Projekt und danach, wer in welcher Weise von der Zusammenarbeit profitiere. Die Gruppe wollte sich nicht für Forschungszwecke instrumentalisieren lassen und auch nicht dazu dienen, das Museum mit  symbolischem Mehrwert auszustatten. Sehr genau wurde in allen Phasen der Zusammenarbeit darauf geachtet, dass die Interessen aller Beteiligten offen artikuliert, immer wieder überprüft und – im Sinne eines «minimalen Gleichgewichts» – gewahrt wurden, ohne dabei die Tatsache der ungleich verteilten Ressourcen zu verleugnen. So wurde zum Beispiel gemeinsam entschieden, dass die Kunstvermittlerin und ein Mitglied der Gruppe das Projekt im Team leiteten. Wichtig war in diesem Zusammenhang auch, dass das konkrete Vorgehen und die Inhalte im Projekt nicht von der Vermittlerin vorfabriziert, sondern gemeinsam in der Gruppe entwickelt wurden. Dementsprechend erhielt das Projekt den sehr offenen Namen «Atelier» – die Bezeichnung für eine Werkstatt, in der sich Unerwartetes und Ungeplantes in unterschiedlichen Arbeitsformen ereignen kann. Gemeinsam besuchte die Gruppe, die aus 15 Interessierten bestand, die in der Autonomen Schule Deutsch lernten, zunächst mehrmals die Ausstellung und führte Gespräche mit der leitenden Kuratorin. Bei den Ausstellungsbesuchen wurde der erste Widerspruch artikuliert: Die «Wir»-Adressierungen in den Ausstellungstexten und im Katalog richteten sich ausschliesslich an die relativ wohlhabenden und vor allem legalisierten Mitglieder der Gesellschaft – beispielsweise bei der Betonung, dass es heutzutage normal sei, alles mit Kreditkarte zu bezahlen. Genauso verhielt es sich mit den in der Ausstellung befindlichen Gegenständen, bei denen der Gruppe gleich auffiel, dass die meisten davon für sie unerschwinglich oder aufgrund ihres Aufenthaltsstaus nicht zugänglich waren. Die Einladung an eine Gruppe, in der Ausstellung präsent zu sein und mit Inhalten zu arbeiten, die eigentlich nicht für sie gemacht und gedacht waren, produzierte das beschriebene  Spannungsverhältnis von Paternalismus und Öffnung der Institution. Um damit umzugehen, wurde darauf verzichtet, im Sinne einer «Zielgruppenansprache» mögliche Interessen der Gruppe vorab zu definieren. Stattdessen wurde ein Diskussionsraum eröffnet, um in der Gruppe gemeinsam herauszuarbeiten, was die eigenen Positionen und Interessen gegenüber dem Museum und der Ausstellung sein könnten. Dies bedeutete, das Projekt weniger als  Partizipation denn als  Kollaboration mit der Institution zu begreifen – mit einem entsprechend offenen Ende, was die Resultate betraf. Im Anschluss an die Ausstellungsbesuche beschäftigte sich die Gruppe in verschiedenen Workshops mit visuellen Medien und entwickelte Annäherungen an den Stadtraum durch die Kamera, unter dem Blickwinkel der Globalisierung und entlang der Themen, die auch die Ausstellung strukturierten: Mobiliät, Kommunikation, Wirtschaft und Kontrolle. Die Gruppe entschied sich im Laufe dieser Erkundungen, die vier Themen aus der Sicht derer zu bearbeiten, die illegalisiert in Zürich leben und dort bleiben wollen. Bei der Arbeit im Stadtraum war es von Seiten der Institution ein weiteres Mal nötig, aktiv an der Herstellung von Augenhöhe beziehungsweise der Umverteilung von Ressourcen zu arbeiten. Die Kameras wurden für die Teilnehmenden des Ateliers vom IAE ausgeliehen. Die Geräte wurden jeweils mit einem Begleitbrief versehen, damit keine_r der Beteiligten ohne Papiere bei einer Polizeikontrolle in den Verdacht geraten würde, eines davon gestohlen zu haben. Das Leitungsteam brachte nach einigen Treffen die Idee ein, gemeinsam eine Publikation zu produzieren, die anderen Leuten in der gleichen Situation helfen sollte, sich in Zürich zurechtzufinden: ein «Bleibeführer» – in ironischer Replik auf die allgegenwärtigen touristischen «Reiseführer». Die nächsten Monate vergingen mit der kollektiven Entwicklung dieser Publikation. In dieser Phase bestand Gelegenheit, in dem dritten der genannten Spannungsfelder zu arbeiten: dem, das aus unterschiedlichen Ästhetiken resultiert. Denn die Frage nach der Ästhetik des «Bleibeführers», nach seiner Form, seinem Erscheinungsbild, war nicht leicht zu beantworten. Die Mitglieder der Gruppe kamen aus unterschiedlichen Schichten und geopolitischen Regionen und hatten heterogene Zugänge zur Formgebung. An dieser Stelle griff die Kunstvermittlerin stärker ein als im übrigen Prozess, weil sie sich in Bezug auf das Produkt des Projektes mehrfach verpflichtet fühlte: dem Museum, dem Forschungsinstitut und nicht zuletzt den eigenen Gestaltungsansprüchen und dem Vermittlungsprojekt selbst. Sie brachte an dieser Stelle auch ihre gestalterische Expertise ein. Zwar wurden alle Entscheidungen in Bezug auf Bild- und Textauswahl in der Gruppe diskutiert und beschlossen, aber der  Bleibeführer erhielt ein homogenes, aktuellen Standards – und Konventionen – entsprechendes Grafikdesign. Er wurde darum auch von Seiten des Museums als Produkt akzeptiert und lag neben den anderen Angeboten im Museumsshop zum Verkauf aus. Gleichzeitig wurde er auch in der Stadt Zürich stark nachgefragt, von Organisationen, die im Bereich Migration arbeiten. Der «professionelle Auftritt» der Publikation hatte demnach einen mehrfachen taktischen Nutzen und führte dazu, dass der «Bleibeführer» in einer zweiten Auflage nachgedruckt wurde (Landkammer, Polania 2012).

Die  Funktionen der Vermittlung aus der Perspektive des Museums sind in diesem Projekt vielschichtig. Sie beinhalten eine reproduktive Dimension, da zumindest temporär neue Nutzer_innen für das Museum erreicht wurden. Doch tritt dieser Aspekt gegenüber der dekonstruktiven Funktion der Vermittlung in den Hintergrund. Diese liegt zum einen in der kritischen Hinterfragung der Adressierungen, welche das Museum und die besuchte Ausstellung «Global Design» implizit vornahm – nicht nur auf der diskursiven Ebene, sondern bereits durch die Anwesenheit von Personen, die von den meisten gesellschaftlichen Ressourcen aufgrund von  alltäglichem und strukturellem Rassismus ausgeschlossen sind. Zum anderen, weil mit dem «Bleibeführer» ein neuer Beitrag entstand, der an das Bestehende als Vorschlag für eine Interpretation des Themas «Global Design» andockte und dieses so gleichzeitig in seiner Bedeutung verschob. Weiter beinhaltet das Projekt auch eine transformative Dimension: durch die Bildung einer Gruppe mit Aktivitäten über die bisherigen Formate der Musemsvermittlung hinaus, durch die Öffnung der Vermittlung als Raum für gesellschaftspolitisches Handeln und durch die Nachfrage nach dem «Bleibeführer» durch ein anderes gesellschaftliches Handlungsfeld. Das Museum transformierte sich in diesem Rahmen zu einer «Institution of Critique», wie sie die Künstlerin Andrea Fraser im Eingangszitat dieses Textes als Konsequenz von dreissig Jahren Institutionskritik in der Kunst einfordert. Mittelfristig trug das Projekt «Kunstvermittlung in Transformation», in welchem das «Atelier» verortet war, zu einer sichtbaren Veränderung am Museum bei. 2012 wurde dort die Stelle einer «Kuratorin Vermittlung» eingerichtet. Letzteres ist – so die These der Autorin – ebenfalls ein Symptom des oben beschreiben Educational Turn: die vielerorts wahrzunehmende Aufwertung von Vermittlung in den Kultureinrichtungen. Diese Aufwertung ist für die Weiterentwicklung des Arbeitsfeldes zentral. Denn wenn die durch die Diskurse dieses Turns artikulierten Ansprüche eingelöst werden sollen, ist bei der Durchführung von Vermittlungsprojekten in jedem Fall eine pädagogische Expertise im Sinne von pädagogischer Reflexivität wichtig, die weder die Akteur_innen aus der Kunst noch aus der Programmgestaltung automatisch mitbringen. Es bleibt abzuwarten, ob sich der Educational Turn als stark im Sinne eines Paradigmenwechsels erweist und dazu führt, dass künstlerisches, kuratorisches und pädagogisches Wissen in den Kulturinstitutionen gleichberechtigt zusammenwirken.

1 «[…] bei einem klassischen philosophischen Gegensatz (hat man es) nicht mit der friedlichen Koexistenz eines Vis-à-vis, sondern mit einer gewaltsamen Hierarchie zu tun...Einer der beiden Ausdrücke beherrscht den anderen, steht über ihm. Eine Dekonstruktion des Gegensatzes besteht zunächst darin, im gegebenen Augenblick die Hierarchie umzustürzen. […] Der Praktiker der Dekonstruktion arbeitet innerhalb eines Begriffssystems, aber in der Absicht, es aufzubrechen» (Culler 1988, S.95).

2 Im Ankündigungstext auf der Website des Southbank Centre heisst es: «This summer, […], the Hayward Gallery transforms into Wide Open School. An experiment in public learning, Wide Open School offers a programme devised and fuelled by the imaginations of more than 80 artists from over 40 different countries. Intended as a meeting place for people who love learning but don’t necessarily like being taught, Wide Open School presents the opportunity for people of all ages and walks of life to explore different ways of learning about a wide variety of subjects, alongside leading artists.»

3 Ich danke an dieser Stelle meiner Kollegin Nora Landkammer für die Zurverfügungstellung von schriftlichen Notizen, auf denen meine kurze – und zwangsläufig die Komplexität des Projektes verkürzende – Beschreibung basiert.

Literatur und Links

Der Text basiert in Teilen auf folgenden bereits erschienenen Beiträgen:

Weitere Literatur:

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