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Hans Ulrich Glarner

Wenn Mädchen Bilder tanzen

Kulturvermittlung erlebe ich als qualitativ hochstehend, wenn sie mir ermöglicht, Schritte zu tun. Auf etwas Neues hin und auf mich selbst zu. Das betrifft im Idealfall alle Beteiligten, sowohl mich als Teil des Publikums, mich als Vermittler oder mich als Auftraggeber. Nur eine in der Strategie der Kulturpolitik verankerte Praxis der Kulturvermittlung kann diese umfassende Wirkung erzielen. Es gibt dann nicht nur die Adressaten, die zufriedengestellt werden sollen, nicht nur die Institutionen, die eine bessere Auslastung erzielen wollen, nicht nur die Politik, die mehrheitsfähig sein muss. Vielmehr begreift sich eine in der Strategie der Kulturpolitik verankerte Kulturvermittlung als reziprokes System, welches für die Weiterentwicklung staatlicher Kulturförderung und Kulturpflege entscheidende Impulse gibt. Kulturvermittlung wird dadurch zum Kern einer partizipativen Kulturpolitik. Sie hat zum Ziel, möglichst vielen Menschen die Auseinandersetzung mit kulturellen Fragen, die Teilhabe an kulturellen Prozessen und den Zugang zu künstlerischen Werken zu ermöglichen. Dies kann nur nachhaltig wirken, wenn die Qualität konstant hoch ist. Erfolg verhält sich dabei keineswegs im umgekehrten Verhältnis zur Qualität. Wer dies behauptet, kapriziert sich auf ein elitäres Kunstverständnis, das auf Distinktion statt Kohäsion zielt.

Im Rahmen einer Veranstaltung im Aargauer Kunsthaus hat eine 9-jährige Teilnehmerin diese Erfahrung nonverbal auf den Punkt gebracht. Am Schluss der sogenannten «Kunstpirsch» waren die Kinder aufgefordert, über ein Bild zu sprechen, das ihnen besonders gefallen hatte. Die Schülerin, sie hiess Albana, sagte zur Vermittlerin: «Weisch, ich cha Bild nid rede, aber tanze.» Das Mädchen stellte sich vor das Bild ins Halbrund der Klasse und gab seinen Eindrücken durch Bewegung Ausdruck. Die Mitschüler quittierten den überraschenden Auftritt mit spontanem Applaus.

Ein Mädchen, nach unseren Massstäben ohne traditionelles Kunstverständnis und noch dazu unserer Sprache kaum mächtig, hat sich den Sinn, die Aussage des Kunstwerks zu eigen gemacht, ihre persönliche Erkenntnis den andern mitgeteilt und sie daran teilhaben lassen. Diese Begebenheit steht sinnbildlich für die Wirkung von Kulturvermittlung. Das Kunstwerk hatte die Kraft, eingeübte Konventionen der Bildbetrachtung und der Kommunikation zu sprengen, die Teilnehmerin am Vermittlungsprogramm war bereit, sich zu exponieren und die Kunstvermittlerin stellte den Rahmen her, in dem diese Interaktion möglich wurde. Alle Beteiligten stärkten ihre Identität als Gruppe und erweiterten gleichzeitig als Individuen ihren Horizont. Das hat Qualität.

Hans Ulrich Glarner ist Kulturbeauftragter des Kantons Aargau.

Felicity Lunn

Die Kunstvermittlung als die vertiefte Begegnung mit Kunst

Aus der Perspektive einer Kunstinstitution hat die Vermittlung unterschiedliche Auswirkungen auf das Dreieck Organisation, Publikum und Vermittler_innen.

Durch die Kunstvermittlung wird die Begegnung mit Kunst vertieft, weil verborgene Zusammenhänge offenbart werden. Diese Begegnung, die mehr Zeit und Engagement verlangt als ein (anonymer) Ausstellungsbesuch, führt die unterschiedlichen, von kulturellem Hintergrund, Alter, Geschlecht oder Bildung geprägten Wahrnehmungen vor Augen. Über die für unterschiedliche Zielgruppen vorhandenen Angebote, sich zu einer Ausstellung zu äussern, erhält die Organisation selbst ein Feedback, wie Ausstellungen wahrgenommen werden. Die Kulturvermittlung öffnet die Augen der Organisation für andere Standpunkte, Reaktionen und Weltansichten. Dadurch lernt die Organisation mehr über ihr Publikum, aber auch mehr über die Wirkung der ausgestellten Kunst und die Art und Weise, wie sie gezeigt wird. Dies kann dazu führen, dass eine Organisation mehr über die Bedürfnisse der Besucher reflektiert und diese durch die Differenzierung verstärkt als Einzelne denn als anonyme Masse betrachtet.

Die Kunstvermittlung ist die beste Form von Marketing. Im Vergleich zu herkömmlichen Kommunikations- und Werbeformen, die die Hemmschwellen bei vielen Menschen nicht abbauen, ermutigt sie Teilnehmer_innen auf direkte und konkrete Art und Weise, die Organisation weiterhin zu besuchen und andere Menschen mitzubringen. Das Konzept der Vermittler als Gastgeber, wobei Kinder und Jugendliche Verwandte und Freunde einladen und führen können, erweitert den Kreis von Besuchern. Dadurch wird demonstriert, dass der persönliche Zugang zu Kunst wichtiger ist als das «Verständnis» von ihr.

Wenn Ausstellungen als echte Kommunikationsräume betrachtet werden können, hat die Kunstvermittlung die Funktion eines Dirigenten, der den Dialog zwischen der Ausstellung und dem Publikum initiiert und fördert. Viel mehr als rein konventionelles Wissen zu liefern oder traditionelles Kunstverständnis zu zementieren, bietet die Kunstvermittlung neue Vorstellungen, Kunst zu rezipieren, sie als Bestandteil des eigenen Lebens anzusehen. Wenn Betrachter_innen auf echte Art und Weise einbezogen, als Partner_innen, Akteur_innen oder Kompliz_innen behandelt werden, wirkt die Kunstvermittlung als eine Auseinandersetzung mit der Kunst, die unterschiedlichste Betrachtungen und Interpretationen zulässt.

Die aktive Beteiligung an der Vermittlung von Kunst fördert eine Vielfalt von Kompetenzen, die für das heutige Leben von Kindern wie auch Erwachsenen wichtig sind: schauen und auf das Visuelle reagieren, Inhalte analysieren und vermitteln, eigene Meinungen präsentieren, zuhören und diskutieren können, die Haltung von anderen respektieren.

Felicity Lunn war von 1990–1998 Kuratorin an der Whitechapel Art Gallery in London, von 2005–2008 Direktorin des Kunstvereins Freiburg (Freiburg im Breisgau) und von 2009–2011 Regional Curator der UBS Art Collection. Seit Januar 2012 ist Felicity Lunn Direktorin des Kunsthauses CentrePasquArt in Biel.

Irena Müller-Brozovic

Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Vermittler

Vermittlung in mehrmonatigen  partizipativen Projekten ist keine einmalige Wunderpille, sondern ein Prozess, bei dem sich alle Beteiligten verändern.

Von Veranstaltern und der Politik wird Vermittlung oft als Sofortmassnahme (hoffentlich mit Dauerwirkung) gefordert und als Bestätigung der Wirkung wird eine Aufzählung von erreichten Menschen erwartet: Anzahl «Bekehrte» pro Anlass pro Franken. Je mehr Involvierte, desto besser. Vermittlung wird hier mit Audience Development gleichgesetzt.

Der Fokus der Vermittler liegt aber nicht auf der Masse, sondern auf der Klasse. Solche Qualitäten können nicht quantitativ beziffert werden. Trotzdem benötigen Vermittler, Kunstschaffende, Intendanten und Kulturpolitiker Argumente, um Vermittlung zu rechtfertigen und zu fördern. Denn gute Vermittlung kostet.

Bei traditionellen Kunstformaten herrscht eine klare Trennung zwischen Künstlern und Publikum. Performierende Künstler spüren zwar die Reaktion des Publikums, doch sie kommen kaum in vertieften Kontakt mit den Rezipienten. In den langfristigen partizipativen Education Projekten werden Kunstschaffende grundsätzlich in ihrem Tun hinterfragt. Sie geben Impulse für kreatives Tun, nehmen Ideen der Teilnehmer auf, durchlaufen mit ihnen Krisen und erfahren in der Auseinandersetzung mit Laien einen neuen gesellschaftspolitischen Aspekt in ihrer künstlerischen Arbeit. Dieser offene Prozess ist bei partizipativen Projekten mindestens so wichtig wie das Produkt. Wer darin involviert ist, spürt dessen Wirkung fast körperlich und empfindet die Vermittlungstätigkeit als herausfordernd und sinnvoll. Ein Risiko dabei ist, dass der offene Prozess nicht plan- und voraussehbar ist und durchaus auch scheitern kann. Als Nebenwirkung kann eine Veränderung der Künstler und Institutionen von innen her beobachtet werden: Bei neuen Vermittlungsprojekten wird die Zusammenarbeit zwischen Laien und Profis auf ausdrücklichen Wunsch der Künstler noch intensiver konzipiert, in der Saisonplanung wird die Vermittlung gleich mitgedacht, und eine Vermittlungsidee kann Grundlage für eine Produktion der Institution sein – ein Paradigmenwechsel! Voraussetzung dafür ist, dass Vermittlung Chefsache ist und ein Vermittlungsprojekt sowohl von der Öffentlichkeit als auch von den Entscheidungsträgern Würdigung erfährt.

Das Ziel von Education Projekten ist nicht Wissensvermittlung, sondern eine gemeinsame künstlerische Produktion von Laien und Profis. Die aktive Beschäftigung mit Kunst unterstützt die Persönlichkeitsbildung und – ganz besonders bei Tanzprojekten – das Selbstwertgefühl. Nach einem intensiven Probenprozess bewegen sich die Teilnehmer wie selbstverständlich in Garderoben, Kantinen, backstage und auf Bühnen von Theatern und Konzerthäusern – eine Eroberung von inneren und äusseren Welten.

Irena Müller-Brozovic studierte in Basel und Detmold Klavier, Schulmusik und Musikvermittlung/Konzertpädagogik. Im Auftrag der Abteilung Kultur Basel-Stadt leitet sie die «Education Projekte Region Basel». 2007 wurde ihr der «Junge-Ohren-Preis» zugesprochen. Sie ist u.a. tätig für das Sinfonieorchester Basel und das Theater Basel und lehrt Musikvermittlung an der Hochschule der Künste Bern.

Bundesamt für Kultur, Sektion Kultur und Gesellschaft

Warum fördert der Bund die Kulturvermittlung?

Dieser Text gilt gleichermassen als Perspektivwechsel für 6. Warum (keine) Kulturvermittlung?

Es gibt viele gute Gründe, warum die öffentliche Hand die Kulturvermittlung fördern sollte. Die Argumente sind je nach Standpunkt ökonomischer, fiskalischer, pädagogischer, didaktischer, künstlerischer und gesellschaftlicher Art.

Für den Bund stehen gesellschaftliche Aspekte im Vordergrund. Der Gesetzgeber hat die Richtung vorgegeben, indem er das Ermöglichen und Erleichtern des Zugangs zur Kultur zu einem der Ziele der Kulturförderung des Bundes erklärt hat (Art.3 Bst. d KFG). Projekte, die in diesem Sinn wirken, werden vom Bund bevorzugt unterstützt (Art.8 Bst. a KFG). Die Botschaft zum Kulturförderungsgesetz bringt die Förderung des Zugangs unmittelbar mit Kulturvermittlung in Zusammenhang (Erläuterungen zu Art. 8 KFG).

Die Betonung der Aspekte Partizipation und Inklusion erklärt sich aus der Bedeutung, die der Bundesrat der Kultur beimisst: «Kultur [ist] ein zentraler Faktor des politischen und gesellschaftlichen Lebens, ein wirkungsvolles Instrument zur Wahrung der sozialen Integration und des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Aktive Kulturpolitik beschränkt sich daher nicht auf die Förderung des künstlerischen Schaffens und die Erhaltung des kulturellen Erbes. Sie zielt auf die Beteiligung möglichst aller Bevölkerungsgruppen am kulturellen Leben. […] Künste schärfen die Wahrnehmung und entwickeln das Bewusstsein. Es gibt keine bessere Schule des Betrachtens, der Aufmerksamkeit, des Differenzierens als Kunst. Genaues und kritisches Hinhören, Hinsehen, Mitdenken macht die Menschen aufmerksam, ausdrucks- und urteilsfähig. Sobald eine sinnliche Anschauung in emotionale oder intellektuelle Erkenntnis übergeht, wird sie gesamtgesellschaftlich bedeutsam. Der eigentliche Wert der Kultur liegt darin, dass sie dem Menschen ermöglicht, sich selbst und sein Umfeld zu verstehen und verständlich zu machen.» (Botschaft zur Finanzierung der Kultur 2012 – 2015)

Die Teilhabe eines breiten und vielfältigen Publikums ist für die Legitimation der Kulturförderung relevant: In den vergangenen Jahrzehnten ist das kulturelle Angebot in der Schweiz (wie auch in anderen Ländern) stark angestiegen. Das Publikumsinteresse hat damit nicht Schritt gehalten. Im Interesse der Nachhaltigkeit darf sich die Kulturförderung daher nicht auf die Subvention des Kulturbetriebs (Ausbau und Konsoli­dierung des Angebots) beschränken, sondern es sind auch Massnahmen zur Heranbildung künftiger Nutzer und Nutzerinnen von Kunst und Kultur erforderlich.

Die wichtigsten Instrumente des Bundes für die Verbesserung des Zugangs zur Kultur in der Periode 2012 – 2015 sind Sprachenförderung, Förderung musikalischer Bildung, Leseförderung (Massnahmen des Bundesamtes für Kultur) sowie die Unterstützung von Kunstvermittlungsprojekten (Massnahmen der Stiftung Pro Helvetia).

Die Sektion Kultur und Gesellschaft kümmert sich um Fragen der kulturellen Bildung und der kulturellen Teilhabe, namentlich in den Bereichen Sprachförderung, Leseförderung, musikalische Bildung, Laien- und Volkskultur.