Merkliste →
Text als PDF-Download ↓ Case Studies

CS.1 «Schulhausroman» und «Auf dem Sprung»

Einleitung

Die vorliegende Case Study diskutiert zwei Vermittlungsprojekte der Sparte Literatur. Beide Projekte sind im Schulkontext angesiedelt und in Bezug auf ihre Adressat_innen und ihre partizipative Ausrichtung ähnlich. Die neun leitenden Fragen aus der vorliegenden Publikation dienen als Analyseraster, geben aber nicht die Reihenfolge der inhaltlichen Diskussion vor. Diese fokussiert ausgewählte Aspekte, die für die Analyse des Projekts am zentralsten erscheinen. Beim «Schulhausroman» und bei «Auf dem Sprung» konzentriert sich die Analyse vornehmlich auf die Adressierung und Involvierung der Jugendlichen und die konkrete Ausgestaltung der Zusammenarbeit, und weniger als im Text  Case Study 2 auf die strukturelle Anlage der Projekte und das strategische Vorgehen der Initiator_innen. Die diskutierten Fragen sind dabei nicht immer voneinander abzugrenzen, sondern überlappen sich und verweisen wiederum auf weitere Fragen.

Schulhausroman


Cover Schulhausroman
© Provinz GmbH
Das Projekt «Schulhausroman» wurde 2004 vom Schweizer Schriftsteller Richard Reich konzipiert und ins Leben gerufen. Es sollte sogenannt lernschwachen Schüler_innen die Auseinandersetzung mit Literatur in der Praxis ermöglichen. Autor_innen werden eingeladen, gemeinsam mit Schüler_innen in einem Klassenverband einen Roman zu schreiben, der anschliessend veröffentlicht und in einer Lesung in einer Institution, meistens in einem Literaturhaus, von den Schüler_innen präsentiert wird. Das Projekt ist inzwischen von Schulen in Deutschland und in Österreich übernommen worden und wird derzeit auch in der Westschweiz eingeführt.

Auf dem Sprung


Ausstellungsplakat
© Archiv der Jugendkulturen
«Auf dem Sprung» war ein Bestandteil des Projekts «Migrantenjugendliche & Jugendkulturen» des Archivs der Jugendkulturen in Berlin. Zwölf Berliner Jugendliche aus vier zehnten Klassen mit Verwandten in Palästina, der Türkei, dem Libanon, in Kroatien, Russland und Deutschland trafen sich im Archiv zur Teilnahme an einer Literaturwerkstatt unter der Leitung der Autor_innen Anja Tuckermann und Guntram Weber. Der Workshop wurde begleitet von einem Fotoprojekt, angeleitet von dem Fotografen Jörg Metzner. Die Schüler_innen arbeiteten im September 2008 in einem einwöchigen Workshop zusammen und setzten sich mit ihrem Alltag in Berlin vor dem Hintergrund ihrer kulturellen Zugehörigkeit auseinander. Im Anschluss an die Werkstätten fanden mehrere öffentliche Präsentationen der dort entstandenen Texte und Fotos der Jugendlichen statt, Lesungen und Diashows sowohl in der eigenen Schule als auch im Archiv der Jugendkulturen. Den Abschluss bildete die Gestaltung der Ausstellung «Auf dem Sprung» im Mai 2009. Vom 6. Mai bis 7. September 2009 wurde sie im Archiv der Jugendkulturen gezeigt.1 Die Ausstellung war zudem vom 25. Mai bis zum 11. Juni 2010 in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zu sehen. Sie wurde dort von der interdisziplinären Arbeitsgruppe «Bildkulturen» im Rahmen des Jungen Forums für Bildwissenschaften präsentiert.2

Diskussion

Warum Kulturvermittlung? Motivationen und Zielsetzungen der Projektinitiator_innen. Wie wirkt Kulturvermittlung? Funktion des Vermittlungsprojektes für die Institution mit einem besonderen Fokus auf Publikumsbildung.

Der Autor Richard Reich entwickelte das Projekt  Schulhausroman als Reaktion auf Rückmeldungen von Schüler_innen auf seine Lesungen. Er wollte durch die aktive Beteiligung und praktische Auseinandersetzung sogenannt lernschwache Schüler_innen an Literatur heranführen und empfand das Format der Lesungen dafür als unzureichend. Damit ist die Ausgangsintention des Projektes in Bezug auf die Literatur in den Bereich der Publikumsbildung und somit zunächst in den  reproduktiven Diskurs einzuordnen. Durch die offene Anlage der Zusammenarbeit und die Auseinandersetzung mit den Autor_innen bei der gemeinsamen Produktion eines Werkes in beiderseitigem Wissensaustausch enthält das Projekt  dekonstruktive Elemente. Dies gilt sowohl für die Rezeption von Autor_innen als auch für das Feld der Literatur selbst. Die Sprache der Jugendlichen wird von den Autor_innen nicht als defizitär wahrgenommen, sondern als spezifisches Wissen in den Schreibprozess integriert. Eine dekonstruktive Funktion entfaltet das Projekt auch in Bezug auf den Literaturbetrieb. Mit der Namensgebung «Schulhausroman», dem Anspruch, mit renommierten Autor_innen zu arbeiten und die Lesungen in anerkannten Kulturinstitutionen oder Literaturhäusern stattfinden zu lassen, werden die Schüler_innen im Rahmen des Projektes nicht als zukünftige Besucher_innen von Literaturhäusern oder als Leser_innenschaft adressiert. Vielmehr nutzt das Projekt bewusst den Status der ausgewählten Kooperationspartner_innen, um die  Jugendlichen als junge Autor_innen ernst zu nehmen und sowohl ihre Themen als auch ihre Sprache sichtbar zu machen. Damit wendet sich das Projekt aktiv gegen bestehende Ausschlüsse, kehrt die vermeintliche sprachliche Benachteiligung der Jugendlichen in einen literarischen Mehrwert um und stellt gleichzeitig  aktuelle künstlerische Positionen zur Diskussion.

Das Projekt ist in der Schule angesiedelt und erreicht dadurch auch Jugendliche, die nicht zum bildungsbürgerlichen Spektrum gehören. Es unterscheidet sich gleichzeitig von der konventionellen  formalen Lernsituation in der Sekundarstufe 1, indem

In dieser Weise entfaltet das Projekt auf die Institution Schule, wenn auch nur zeitlich begrenzt, eine  transformative Funktion. Durch die Sichtbarmachung und die teilweise Nachahmung der Funktionsweisen im Literaturbetrieb interveniert das Projekt mit seiner institutionellen Rahmung in die Logiken der Literaturproduktion. Es spricht den Schüler_innen im Schreiben grösstmögliche künstlerische Freiheit zu und erlaubt auch die Verhandlung von Themen wie Gewalt und Sexualität, die im Schulalltag oft tabuisiert werden. Dies kann mitunter dazu führen, dass die Texte von ihren Rezipienten – der Elternschaft oder den Lehrenden – kritisiert werden. Im Waadtland weckte ein Text aus einem Vorort von Lausanne bei den Eltern einer anderen Klasse, deren Roman im selben Heft erschienen war, grosse Kritik. Der betreffende Text mit dem Titel «Abuse Land» bediente sich der Stilmittel der Trickfilmserie  South Park und enthielt einige brisante Textpassagen. Der Elternprotest, der über die Schulleitungen von der einen zur anderen Schule kommuniziert wurde, führte schliesslich dazu, dass die erste Version des Textes zurückgezogen und eine zweite, etwas entschärfte Variante mit dem Titel «Imagination Land» gedruckt wurde. Die Textänderungen wurden von den Jugendlichen selbst in Zusammenarbeit mit der Autorin vorgenommen. Während die Autorin sich der Zensur zunächst verwehren und auf der künstlerischen Freiheit bestehen wollte, versuchten die Projektinitiator_innen negative Folgen für die Schüler_innen, sowohl in der Schule als auch im Elternhaus, zu vermeiden und entschieden sich für einen Neudruck. In diesem Fall hatten die Schüler_innen auch etwas über die  Wirkungsweisen von Kunst gelernt. Aus der Perspektive der Initiator_innen entfaltet das Projekt in diesen Momenten jene  Wirkungskraft, die den Schüler_innen verdeutlicht, dass die von ihnen verfassten Texte bedeutungsvoll sein können. Die Kritik an den Texten machte deutlich, dass diese auf einer literarischen und inhaltlichen Ebene wahrgenommen wurden, und verschob damit, wenn auch punktuell, tradierte Werturteile.

«Auf dem Sprung» hingegen war Teil des Projektes «Migrantenjugendliche & Jugendkulturen» und wurde vom  Archiv der Jugendkulturen Berlin initiiert. Das Archiv der Jugendkulturen e.V. existiert seit 1998 und sammelt – als einzige Einrichtung dieser Art in Europa – Zeugnisse aus den Jugendkulturen selbst (Fanzines, Flyer, Musik etc.), aber auch wissenschaftliche Arbeiten, Medienberichte und so weiter und stellt diese der Öffentlichkeit in seiner Präsenzbibliothek kostenfrei zur Verfügung. Darüber hinaus betreibt es eine umfangreiche Jugendforschung, berät Kommunen, Institutionen und Vereine, bietet jährlich bundesweit rund 120 Schulprojekttage und Fortbildungen für Erwachsene an und publiziert eine eigene Zeitschrift – das «Journal der Jugendkulturen» – sowie eine Buchreihe mit etwa sechs Titeln jährlich.3 Damit ist die Funktion des Projektes gesellschaftspolitisch motiviert: Es zielt weniger auf die Erhöhung von Kulturkonsum ab, sondern eher auf eine themenzentrierte Auseinandersetzung mit Migration und Jugend. Implizites Ziel des Projektes war es, über die Arbeit mit den Jugendlichen positive Aspekte von Vielfalt aufzuzeigen, und es verhält sich damit  affirmativ zu den institutionellen Zielen.

Für wen Kulturvermittlung?

Wie und als was werden Personen zur Teilnahme eingeladen, welchen Nutzen verspricht das Projekt den Teilnehmenden explizit? Welche Motivationen, Bedürfnisse, Defizite bei und welcher Nutzen für die Teilnehmenden werden implizit vorausgesetzt?

Beide Projekte arbeiten mit Schüler_innen, die in ihren jeweiligen gesellschaftlichen Zusammenhängen als benachteiligt wahrgenommen werden. Mit der Adressierung der Vermittlungsinitiative an Jugendliche, welche die unteren Oberstufen besuchen, erkennt das Projekt «Schulhausroman» die Chancenunterschiede an, die innerhalb des Schulsystems herrschen und gleichzeitig von diesem hervorgebracht werden. Es definiert als Hauptkriterium von Benachteiligung die Schulform und nicht die Herkunft. Damit reflektiert es die Zusammenhänge von Kulturnutzung und Bildungshintergrund.4 Durch die konkrete Umsetzung der Zusammenarbeit wird deutlich, dass alle, Schüler_innen wie Autor_innen, als Beteiligte eines  Lern- und Entwicklungsprozesses begriffen werden. Damit erkennt das Projekt Unterschiede als spezifisches Wissen an und nutzt die Energie, die in der Auseinandersetzung mit Literatur vor dem Hintergrund dieser Differenzen entsteht, für den   Bildungsprozess . Mit der Verpflichtung zur Teilnahme für alle Schüler_innen eines Klassenverbands, unabhängig von Notenstand und Motivation, folgt das Projekt zunächst einem egalitären Anspruch. Dadurch erfolgt die Mitarbeit am Projekt aber nicht freiwillig und erzeugt somit eine für pädagogische Anordnungen klassische  Hierarchie von Lernenden und Lehrenden. Diese wird verstärkt von der Vorannahme, dass die  Auseinandersetzung mit Literatur grundsätzlich sinnvoll und erstrebenswert sei. Durch einen reflektierten Umgang mit diesen Voraussetzungen werden aber die Spannungen zwischen dem Anspruch, Jugendliche am Schreibprozess zu beteiligen und mit ihren Fähigkeiten ernst zu nehmen, und den Rahmenbedingungen, die geschaffen werden müssen, um diesen Anspruch umzusetzen, nicht zugedeckt und harmonisiert, sondern durch die Prozessoffenheit, die auch die Möglichkeit des Nichtgelingens einschliesst, für beide Seiten produktiv gemacht.

Mit dem Wissen, dass Literatur – und insbesondere zeitgenössische Schweizer Literatur – von einem Grossteil der Gesellschaft nicht rezipiert wird, eröffnet das Projekt die Möglichkeit zur Hinterfragung der Bedeutung der Arbeit von Autor_innen in der konkreten Begegnung mit einer Nicht-Leser_innenschaft und setzt sich damit aktiv mit deren Rolle auseinander. Es verfolgt neben der Literaturvermittlung an die Jugendlichen das Ziel, durch die Zusammenarbeit auch auf der Seite der Autor_innen ein Lernen zu initiieren, nämlich ein Bewusstsein für die eigene privilegierte Haltung zu entwickeln und zu erkennen, dass es aufgrund komplexer Wirkzusammenhänge Bevölkerungsgruppen gibt, für die Literatur keine Relevanz besitzt.

«Auf dem Sprung» adressiert die Teilnehmenden als Jugendliche mit Migrationshintergrund basierend auf dem thematischen Fokus des Projektes. Damit verweist das Projekt auf ein  Kulturkonzept, das davon ausgeht, dass die Einstellungen und Perspektiven eines Individuums in erster Linie durch dessen nationale Herkunft, Religion und Sprache bestimmt werden. Kultur wird in diesem Zusammenhang als dominante Konstante verhandelt, die andere Kategorien, wie Bildung, sozialer Status, körperliche Dispositionen, Geschlecht, sexuelle Orientierung, nicht einbezieht und folglich auch nicht als verschränkte und miteinander wirksame Faktoren berücksichtigt. Ein solches kurzgeschlossenes Verständnis von Kultur ist unwillkürlich mit einer Hierarchisierung verbunden. Denn auch wenn sich das Projekt explizit gegen Diskriminierungen durch nationale Herkunft wendet und in dem «Vielfalt tut gut»-Kontext agiert, reproduziert es auf diese Weise implizit Essentialisierungen und Stigmatisierungen, da die Mehrheitsherkunft und damit deren vermeintliche Kultur die Norm bleibt, von der die Vielfalt abgegrenzt wird. Die Selbstdarstellung der Jugendlichen macht sie in dem Projekt damit unweigerlich zu Repräsentant_innen sowohl ihrer Altersgruppe als auch ihrer Ethnie beziehungsweise  Auseinandersetzung mit Literatur. Dagegen brechen die von den Jugendlichen produzierten Texte und Bilder an vielen Stellen mit dieser thematischen Verengung. Sie halten sich nicht an die zuschreibende Frage von Wirkungen oder Einflüssen nationaler, sprachlicher oder religiöser Herkunft, sondern umspannen ein breiteres Spektrum an Inhalten: von Gewalterlebnissen mit Neonazis über Diskriminierungs- und Zugehörigkeitserfahrungen unterschiedlichster Art, Phobien und Hobbys bis hin zu der Möglichkeit, fast um die ganze Welt reisen zu können, weil an allen Orten aufnahmebereite Mitglieder der eigenen Familie wohnen. Die von den Jugendlichen produzierte Vielfalt an Texten und Inhalten verdeutlicht, dass nationale Herkunft und damit verknüpft Religion und Sprache lediglich drei von vielen Einflüssen sind und daher eine isolierte Betrachtung dieser Kategorien Schliessungen produziert, die der Komplexität von Individuen und sozialen Zusammenhängen in keiner Weise Rechnung tragen kann.


Foto: Sarah Charif
© Archiv der Jugendkulturen

Sarah Charif, Foto: Jörg Metzner
© Archiv der Jugendkulturen
«Also hier in Berlin sind wir leider nicht so viele Familienangehörige. Wir sind so um die 150 bis 200 Personen, die noch nicht mal alle in der Nähe wohnen. Ein paar wohnen in Spandau, Wedding, Neukölln, Kreuzberg, Schöneberg und in Tempelhof. Wir sind eine Riesenfamilie. Das waren jetzt nur die, die in Berlin wohnen.» (Sarah Charif)


Foto: Birkan Düz
© Archiv der Jugendkulturen

Birkan Düz, Foto: Jörg Metzner
© Archiv der Jugendkulturen
«Ich bin in Berlin geboren und bin 16 Jahre alt.
Manchmal bin ich Deutscher.
Manchmal bin ich Türke.
Manchmal bin ich Kurde.
Manchmal bin ich Alevite.
Manchmal bin ich Zaza.
Wenn ich in der Türkei bin, sage ich den Menschen dort, dass ich ein Deutscher bin,
Wenn ich in Deutschland bin, sagen die Menschen zu mir, dass ich ein Türke bin.
Oder ich sage, dass ich ein Türke bin.[…]
Wenn ich alleine bin, fühle ich mich als Birkan.
Wenn ich unter Deutschen, Türken, Kurden, Aleviten, Zazas bin, fühle ich mich wie ich.
Ich bin Birkan.»

(Birkan Düz)

Doch dieser Vielfalt an  Kategorien der Selbstverortung (im Gegensatz zu einer essentialisierenden, imaginären Vielfalt der Kulturen) wird in der Projektdarstellung durch die Veranstalter_innen nicht entsprochen. Damit wird das Potential einer Verschiebung der institutionellen Vorannahmen durch die Auseinandersetzung mit den Texten und Fotos auf einer inhaltlichen Ebene nicht eingelöst. Dies verweist auf die enorme Zählebigkeit  kulturalisierender Zuschreibungen.

Ein weiterer Aspekt der Adressierung der Jugendlichen ist die Tatsache, dass sie von ihrer Lehrerin ausgewählt wurden. Die Kriterien, die dieser Auswahl zugrunde lagen, gehen nicht aus der Dokumentation des Projektes hervor. Der Akt der Auswahl spielt aber insbesondere in Bezug auf die Funktion des Projektes für die Schüler_innen eine bedeutende Rolle. Sie könnte eine Belohnung für Schüler_innen sein und für den Rest einen weiteren Ausschluss bedeuten, der die Ungleichverteilungen innerhalb der Schule verstärkt; oder sie könnte gleichermassen in umgekehrter Logik die als schwierig geltenden Schüler_innen in das Projekt involvieren (siehe Abschnitt Auslassungen).

Beiden Projekten gemeinsam ist, dass sie auf ein Erfolgserlebnis der Teilnehmenden setzen und ihnen eine öffentliche Plattform bieten. Beiden Projekten gelingt es, durch die starke Einbeziehung der Jugendlichen in ästhetische und inhaltliche Entscheidungsprozesse und durch die partnerschaftliche Arbeit in der Praxis eine zumindest auf der Repräsentationsebene spürbare  Identifikation der Jugendlichen zu erzeugen. In beiden Projekten werden die Jugendlichen als Autor_innen-Persönlichkeiten entworfen und haben die Möglichkeit, sich als solche selbstbewusst zu präsentieren. Allerdings geschieht dies interessanterweise in dem hochkulturell ausgerichteten Projekt «Schulhausroman» durch die Adressierung einer ganzen Schulklasse deutlich egalitärer und damit radikaler als in dem soziokulturell verorteten Projekt «Auf dem Sprung», bei dem die Beteiligten durch einen Selektionsprozess gegangen sind.

Wer macht Kulturvermittlung?

 Fokus Vermittler_innen: Künstler_innen/Vermittler_innen – ihre Rollen, Intentionen, Ansprüche und Expertisen.

Beim «Schulhausroman» werden ausschliesslich professionelle  Autor_innen für die Arbeit mit den Schüler_innen angeworben Sie agieren in der Rolle von Mentor_innen und als Expert_innen ihres Genres, der Literatur. Die Wahl von Autor_innen, die auf dem Markt erfolgreich sind, vermittelt dieser Rolle zusätzliche Glaubwürdigkeit und Bedeutung (auch wenn diese von den Teilnehmenden durchaus in Frage gestellt wird). Sie prägen den Verlauf, die sprachliche und künstlerische Entwicklung des Projektes entscheidend mit und beeinflussen die Rezeption des Projektes im Feld der Literatur.5 Die Projektinitiator_innen selbst schreiben den Autor_innen eine Schlüsselfunktion in dem Projekt zu und definieren über sie eine der wesentlichen Unterscheidungen zur formalen Lehr- und Lernsituation in der Schule, die sie in der Möglichkeit des Scheiterns verorten:

«Auch die Schreibcoaches (das sind die Schriftstellerinnen und Schriftsteller), welche auf die uneinheitlichen Klassenverbände treffen, sind keine Lehrpersonen aber auch keine nach festgelegten qualitativen Vorgaben arbeitenden Sozialwissenschaftler. Das heisst, sie entwickeln eine sehr individuelle Vorgehensweise und schaffen dabei keineswegs eine neutrale Laborsituation, die sich Klasse für Klasse unter vergleichbaren Bedingungen wiederholen liesse. Jeder Schulhausroman ist deshalb ein Experiment für sich mit ungewissem Ausgang – und der Möglichkeit des Scheiterns.»6

Die Rolle der Autor_innen im Projekt «Auf dem Sprung» ist weniger mit ihrem Status auf dem Markt verknüpft. Sie agieren auch nicht in erster Linie als Vertreter_innen ihres Berufs. Zwar verfügen sowohl beide Autor_innen als auch der Fotograf über Veröffentlichungen in ihrem Feld, arbeiten aber auch seit vielen Jahren als Vermittler_innen in Projekten an der Schnittstelle zwischen Kunst und Gesellschaft – überwiegend in Einrichtungen mit freier Trägerschaft, die der  Soziokultur zuzuordnen sind. Sie vertreten demzufolge nicht den Berufsstand der Künstler_in oder den Kunstmarkt per se, sondern agieren innerhalb des Projektes vornehmlich als Vermittler_innen, die über eine künstlerische Expertise verfügen. Gleichzeitig macht diese Positionierung deutlich, dass es bei «Auf dem Sprung» nicht um eine Auseinandersetzung mit Gegenwartsliteratur oder -fotografie geht, sondern dass Schreiben und Fotografieren als  Werkzeuge für die (Selbst-)Erkundung und (Selbst-)Darstellung von Jugendlichen genutzt werden.

Wer macht Kulturvermittlung?

 Fokus Finanzierung: Welche Auswirkungen haben der Umfang, die Herkunft und die Verteilung der Finanzierung auf das Projekt?

Das Projekt «Schulhausroman» wird realisiert von der  Provinz GmbH, einem Kleinunternehmen der Intitiator_innen Richard Reich und Gerda Wurzenberger mit Fokus auf Schreiben und Publizieren. Die Finanzierung des Projektes erfolgt durch mehrere Kooperationspartner: Das Literaturhaus Museumsgesellschaft, das Schulamt der Stadt Zürich, die  Ernst Göhner Stiftung, sowie die Stiftung  Mercator Schweiz finanzieren das Projekt in der Schweiz.7 Zudem unterstützt Pro Helvetia seit 2010 die Weiterführung des Projekts in Schulen der Romandie. Die Motivationen der Förderinstanzen lassen sich zum Teil aus den Darstellungen des Projekts auf den jeweiligen Institutionsseiten ableiten.

Während die Projektinitiator_innen sehr reflektiert mit Formulierungen umgehen und beispielsweise von «sogenannten» lernschwachen Schüler_innen sprechen, wird das Projekt von den geldgebenden Instanzen nicht immer entsprechend differenziert dargestellt. Die Stiftung Mercator beispielsweise beschreibt das Projekt auf den eigenen Internetseiten wie folgt:

«Jugendliche aus bildungsfernem Umfeld schreiben Geschichten. Lernschwache und sprachlich gehemmte Schülerinnen und Schüler schreiben Romane […] In einem Bereich, der für sie sonst von Niederlagen und Versagensängsten geprägt ist, haben die Jugendlichen ein Erfolgserlebnis. Ihr Selbstbewusstsein wird gestärkt, ebenso ihre sprachliche Ausdrucksfähigkeit.»8

Mit dieser auf die vermeintlichen Defizite fokussierenden Beschreibung werden die eigentlichen Potentiale des Projekts Schulhausroman, die eben gerade in der Verschiebung solcher dominanter Ordnungen des Bezeichnens liegen, ausser Kraft gesetzt. Es wird deutlich, dass der Reflexionsgrad in Bezug auf Zuschreibungen ein und dasselbe Projekt sehr verschieden erscheinen lassen kann.

Auch hier zeigt sich die Zählebigkeit von dominanten Narrativen, welche Ausschlüsse und Stigmatisierungen häufig gerade an der Stelle reproduzieren, wo Projekte eigentlich gegen diese anarbeiten wollen. Dies trifft auch auf Adaptionen, wie Deutschland und Österreich zu.9 Besonders drastisch fällt dabei die Formulierung der  Wuppertaler Website:

«Die Schüler sollten zwischen 12 und 16 Jahre alt sein, also in einem durchaus schwierigen Alter.» […] «Vor allem in Hauptschulen und mit sogenannten Problemkindern sind überraschende Ergebnisse erzielt worden.»

«Auf dem Sprung» wurde im Rahmen des Bundesprogramms «Vielfalt tut gut. Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie»10, vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, von dem Integrationsbeauftragten des Berliner Senats und von der Bundeszentrale für politische Bildung finanziert. Die Motivation der Geldgeber_innen folgt damit den Integrationsdiskursen in Deutschland, die auf die Stärkung der Teilhabe von Migrant_innen in sozialen, kulturellen und politischen Kontexten abzielt.11 In diesem Zusammenhang wird  Kulturvermittlung als eine Praxis entworfen, die diese Bestrebungen unterstützt.

Was wird vermittelt?

Auf welchen Ebenen des Projektes und in welchem Masse sind die Teilnehmenden in das Projekt involviert?


Vorbereitung der Ausstellung
© Archiv der Jugendkulturen

Beim Projekt «Schulhausroman» entwickeln die Jugendlichen in Zusammenarbeit mit den Autor_innen eigene Texte, die sie gemeinsam im Klassenkontext reflektieren und an denen sie wiederum gemeinsam weiterarbeiten. Das Format des kollektiven Schreibens ist ein Grundelement des Projektes, darin werden individuell geschriebene Textpassagen oder Abschnitte zu einem gemeinsamen Ganzen zusammengefügt. Ein Austausch findet auf verschiedenen Ebenen statt, sowohl zwischen den Schüler_innen selbst im gemeinsamen Diskurs der eigenen Texte als auch mit den Autor_innen. Die Rollen der Autor_innen und Schüler_innen sind im Rahmen des Projekts hierarchisch angelegt, scheinen aber dennoch einen Wissensaustausch in beide Richtungen zu ermöglichen:  Durch den hohen Beteiligungsgrad der Schüler_innen an der Entstehung der Texte wird ihre Sprache, die üblicherweise im Rahmen der Schule als defizitär betrachtet wird, wertgeschätzt und in den Prozess eingewoben.12 Die Entwicklung des Romans wird dabei von den jeweiligen Autor_innen unterstützt und bezüglich der Glaubwürdigkeit von Protagonist_innen, Orten und Handlungen wie auch bezüglich stilistischer Fragestellungen mit der Klasse reflektiert Entscheidungen, die die inhaltliche Fortführung der Geschichte betreffen, werden kollektiv von den Schüler_innen selbst getroffen. Das Zusammenführen der einzelnen Textpassagen zu einem Text wird in der Regel von den Autor_innen vorgenommen und im Klassenverband diskutiert. Für die gemeinsame Arbeit an den Texten auch ausserhalb der Lektionen steht allen Projektbeteiligten die Website als Portal zur Verfügung.

Die Beteiligung der Jugendlichen bei dem Projekt «Auf dem Sprung» ist ebenfalls  partizipatorisch angelegt. Dabei bilden die persönlichen Geschichten der Jugendlichen den Handlungsrahmen für das gemeinsame Arbeiten. Die genutzten Medien Literatur und Fotografie dienen als Instrumente des Zugangs und Ausdrucksmittel zur eigenen Lebenswelt. Die Arbeit findet im Gegensatz zum Schulhausroman individuell statt. Die Künstler_innen stehen den Jugendlichen unterstützend und begleitend zur Seite. Dabei bezieht sich die Reflektion wie beim Schulhausroman auf die sprachliche Entwicklung und  literarische Qualität der Texte. In der Fotoarbeit lernen die Jugendlichen den Umgang mit der Kamera sowie Grundlagen der Bildkomposition. Inwieweit einen  kritische Auseinandersetzung über die Verwendung bestimmter Bildmaterialien und ihre Implikationen stattgefunden hat, lässt sich auf der Basis der vorhandenen Daten nicht beurteilen.

Gute Kulturvermittlung?

Reflexivität, zum Beispiel in Bezug auf

Prozess und Ergebnis

Dokumentation

Wer veröffentlicht wo und auf welche Weise was über das Projekt?


Screenshot der Website Schulhausroman im November 2012

Die Reflexivität des Projektes «Schulhausroman» zeigt sich auch auf der Ebene der Selbstdarstellung. Eine  kohärente Gestaltung aller Medien, die Auswahl der Lesungsorte, die Präsentation auf der Website, die Begleitung und Veröffentlichung der Texte online, die Formulierungen, Funktionen und Zugangsweisen auf der Website sowie die Publikation der Hefte vermitteln einen professionellen Anspruch, der alle Projektebenen durchzieht. Die Website mit ihren drei Eingängen: «Eingang Schüler/innen», «Eingang alle», «Eingang Lehrer/Innen» macht auf der Darstellungsebene unterschiedliche Adressierungen sichtbar und reflektiert Sprache durch die Setzung sprachlicher Unterschiede. Zudem ermöglicht dieses Vorgehen den Schüler_innen einen geschützten Austausch während der Projektlaufzeit. Die Ästhetik der Website und der Romane selbst vermeidet in ihrem sachlich-reduzierten Design eine Anbiederung an jugendkulturelle Formen und vermittelt Ernsthaftigkeit. Die Schüler_innen beteiligen sich an der Gestaltung, indem sie ein Titelbild für ihren Roman auswählen, welches sich in einen dafür vorgegebenen Rahmen einfügt.

Die Präsentation des Projektes «Auf dem Sprung» erfolgte vor allem in der Ausstellung, die von Mai bis September 2009 in den Räumen des Archivs der Jugendkulturen gezeigt wurde. Die Arbeiten der Jugendlichen sowie die Jugendlichen selbst wurden dort durch folgende Medien dargestellt:


Lesung der Texte im Archiv der Jugendkulturen
© Archiv der Jugendkulturen

Inwieweit die Jugendlichen an der Ausstellungsgestaltung, Bild- und Textauswahl beteiligt waren, lässt sich anhand der Dokumentation alleine nicht sagen. Die Gespräche mit den Projektinitiator_innen (Projektleiter, Autorin) ermöglichten jedoch in dieser Hinsicht Einblicke, die in dem Punkt Auslassungen besprochen werden.

Die Form der Kommunikation und die formale Ausgestaltung der Ergebnisse entsprechen den Vorannahmen an eine Ästhetik, die oft gegenüber sozial ausgerichteten Kunstprojekten formuliert werden. Die im Kunstkontext als unprofessionell wahrgenommenen – weil nicht  aktuellen Gestaltungsstandards genügenden – Kommunikationsmittel implizieren Rückschlüsse auf die Qualität des Projektes selbst – auch wenn dies nicht immer zutreffend ist. Neben der Qualität auf formaler Ebene bezieht sich die Kritik vor allem auf eine fehlende Kohärenz in der Gesamtdarstellung der Jugendlichen. Während der Film inhaltlich wie auch qualitativ hervorzuheben ist, weil er einen respektvollen Umgang mit den Jugendlichen vermittelt und alle beteiligten Schüler_innen namentlich erwähnt, fällt in der gebundenen Textsammlung auf, dass im Anhang lediglich die professionellen Autor_innen und der Fotograf mit einer Kurzbiografie aufgeführt werden, während die beteiligten Schüler_innen fehlen. Zudem vermag die Textsammlung durch das Weglassen der Fotos keinen Zusammenhang zwischen Bild und Text herzustellen, und verzichtet somit auf einen zentralen Aspekt des Projekts. Auch entspricht die Textsammlung ästhetisch einer studentischen Abschlussarbeit und stellt somit keinen Bezug zwischen Form und Inhalt her. In einem Telefongespräch mit dem Projektleiter Klaus Komatz wurde diese Entscheidung mit der «Privatheit der Texte» der Jugendlichen begründet.14 Im Gegensatz zu dem Zine und dem Film wurden in der Textsammlung sehr intime und private Texte publiziert. Zum Schutz der Intimität der Jugendlichen wurde laut Komatz auch auf einigen Fotos auf die Nennung der Autor_innen verzichtet. Diese Setzung aber vermittelt einen Bruch im Umgang mit Autor_innenschaft insgesamt. Schliesslich sind die Namen der Jugendlichen bei den Texten selbst vermerkt. Die Autorin Anja Tuckermann begründete diese Auslassung damit, dass die Textsammlung vor allem ein Medium für die Jugendlichen selbst gewesen sei, nicht so sehr eine Präsentation nach aussen. Die Kurzbiografien der Autor_innen und des Fotografen sollten den Jugendlichen laut Tuckermann Informationen über die Projektdurchführenden vermitteln, da diese im Projekt von den Jugendlichen nicht erfragt wurden, und sie daher nichts von ihnen wussten. Diese Begründung wiederum wirft Fragen in Bezug auf den Informationsaustausch innerhalb des Umsetzungsprozesses auf. Während die Jugendlichen sehr persönliche Einblicke vermittelten, gaben die Projektleitenden nichts von sich preis. Inwieweit lässt sich mit einer so grossen Informationsdifferenz in Bezug auf die Projektbeteiligten von einer partnerschaftlichen, partizipatorischen Zusammenarbeit sprechen?


Ausstellungsansicht «Auf dem Sprung»
© Archiv der Jugendkulturen

Das Fanzine, das in einem weiteren Workshop mit den Jugendlichen unter der Anleitung eines Mitarbeiters des Archivs erarbeitet wurde, enthält wiederum die Namen der Schüler_innen sowie Texte und Bilder. Grundsätzlich lässt sich eine Kohärenz bezüglich der Nennung der Jugendlichen im Gesamtprojekt nicht erkennen, vielmehr verweisen die unterschiedlichen Umgangsweisen als auch Ursachenbenennungen auf einen wenig reflektierten Umgang mit Fragen der  Repräsentation

Darauf verweist auch eine flankierende Veranstaltung, die im Kontext der Ausstellung realisiert wurde: ein Diskussionsabend zum Thema «Islamische und islamistische Jugendkulturen». Dieser wurde wie folgt auf den Internetseiten des Archivs dokumentiert:

«Unter muslimischen Jugendlichen in Deutschland sind neuartige hybride Lebensstile entstanden, die auf verschiedene Art und Weise auf dem Islam basieren. Während einige Erscheinungsformen dieser Jugendkulturen eher traditionell-religiös oder, typisch jugendlich, provokant daherkommen, nehmen andere Haltungen und Lebensstile islamistische und damit extremistische Züge an. Doch wie blickt man bei dieser Vielfalt an Einstellungen, Musikstücken, Predigten, Kleidungsstilen und Symbolen durch? Wie wird eine jahrhundertealte Religion neu eingepackt, so dass sie jugendgerecht und cool wirkt?»

Diese Fragestellungen wurden im Kontext der Ausstellung mit etwa 85 Interessierten diskutiert. Anhand von zahlreichen Beispielen wurden von den ReferentInnen Ibrahim Gülnar ( Stiftung SPI Ostkreuz15) und Nadine Heymann die Lebensmodelle und Orientierungen junger Muslime in Deutschland aufgezeigt und anschließend zur Diskussion gestellt.16

Die Jugendlichen selbst kamen bei dieser Expert_innenveranstaltung nicht zu Wort und bleiben folglich auf die Rolle der Ausgestellten, sich Herzeigenden verwiesen, die für eine Selbstpräsentation in einem  hegemonialen Raum für eine Weile geduldet sind, solange sie sich auf diese Selbstpräsentation beschränken und die Regeln, unter denen diese stattfindet, unangetastet bleiben. Dies verdeutlicht erneut, dass das Projekt seine eigenen Potentiale in Bezug auf Partizipation, Sichtbarkeit und Mitgestaltung oder Mitsprache auf unterschiedlichen Ebenen nicht erkennt und dementsprechend auch nicht zu nutzen vermag. In «Auf dem Sprung», wo die Jugendlichen vor allem sich selbst repräsentieren, fallen Autor_innen und Werk quasi in eins. Sicherlich verweisen die Texte der Schulhausromane auch auf Fragestellungen und Lebenswelten Jugendlicher – sie tun das aber nicht direkt, sondern, wie bei Autor_innen üblich, durch die Protagonist_innen ihres Werks.

Kontext lokal und historisch

In welche Diskussionen und lokalen Verhältnisse ist das Projekt einzuordnen? In welche Praxis der Kunst- und Kulturvermittlung ist das Projekt einzuordnen?

Das Projekt «Auf dem Sprung» ist aufgrund der Anbindung an das Archiv der Jugendkulturen in den Kontext der Soziokultur zu stellen. Soziokultur beschreibt eine Kulturposition, die sich gegen die Abgrenzung der Künste von der Gesellschaft in den 1970er Jahren entwickelte. Nach Hermann Glaser17, der den Begriff der Soziokultur geprägt hat, sollte jede Kultur Soziokultur sein. Kunst sollte näher am Alltag und den Fragestellungen der Gesellschaft agieren und sich weniger auf sich selbst beziehen. Eine Kulturpolitik in diesem Sinne wurde als Gesellschaftspolitik verstanden. Auch wenn heute eine Annäherung zwischen Soziokultur und der sogenannten Hochkultur reklamiert wird, handelt es sich trotz gegenseitiger Einflussnahme überwiegend um zwei in Bezug auf die Akteure und Institutionen häufig voneinander abgekoppelte Szenen. Dabei ist die Soziokultur hierarchisch der Hochkultur untergeordnet und wird im Kunstfeld dementsprechend mit Sozialarbeit und Pädagogisierung assoziiert. «Auf dem Sprung» agiert damit in einem anderen Kontext als der «Schulhausroman». Die Tatsache, dass der Ausstellungsort, die beteiligten Akteure wie auch die Künster_innen und die Projektinitiator_innen in der Soziokultur zu verorten sind, macht das Projekt im Kunstkontext unsichtbar.

Während beide Projekte auf der Ebene der Einbeziehung von ausgegrenzten oder benachteiligten Gruppen agieren und sich gegen bestehende  Ausschlüsse wenden, verorten sie sich in verschiedenen Bedeutungszusammenhängen. Obwohl der «Schulhausroman» auch an die Debatte um Benachteiligungen im Bildungssystem anknüpft und diese nicht nur mit thematisiert sondern aktiv bearbeitet, verfolgt das Projekt vornehmlich die Vermittlung von Literatur und positiven Schreiberfahrungen. Dabei erkennt es den Defizitaspekt der Literatur in Bezug auf ihre Leser_innenschaft an und versucht, diesem mit künstlerischen Vermittlungsweisen zu begegnen. «Auf dem Sprung» hingegen schreibt sich explizit in die Debatte um Migration und Integration ein und sieht Kunst eher als Werkzeug für die Erzeugung von Sichtbarkeit migrantischer Jugendlicher in einem wohlwollenden, von Mehrheitsangehörigen dominierten Kontext und nutzt diese Auseinandersetzung für die Ermöglichung einer bestärkenden Selbsterfahrung für eine ausgewählte Gruppe dieser Jugendlichen.

Auslassungen

Welche Fragen stellen sich an das Projekt, die von der Dokumentation unbeantwortet bleiben, für eine Einschätzung des Projektes aber relevant scheinen?

Aus der Beschäftigung mit den beiden Projekten lassen sich Fragen ableiten, die durch deren Dokumentation unbeantwortet bleiben. Diese wiederum liefern Informationen über die Reflexivität der Projektinitiator_innen, indem sie auf ihre Auslassungen verweisen.

Die Projektdokumentation von «Auf dem Sprung» hat Fragen aufgeworfen, die erst in Telefongesprächen mit dem Projektleiter Klaus Komatz vom Archiv der Jugendkulturen und der Autorin Anja Tuckermann abgeklärt werden konnten.

Auf dem Sprung: Projektinitiierung

Nach welchen Kriterien wurden die Jugendlichen von der Lehrerin ausgewählt?

Die Projektinvolvierten Anja Tuckermann und Klaus Komatz bestätigten, dass die Auswahl der Schüler_innen von der Lehrerin nach individuellen Gesichtspunkten getroffen wurde. Zwar war die Bedingung der nationalen Herkunft eines der wesentlichen Kriterien, jedoch wurde dieses von der Lehrerin bewusst unterlaufen, zwei der zwölf Jugendlichen waren Deutsche. Nicht der Leistungsstand der Schüler_innen war für die Auwahl zur Teilnahme ausschlaggebend, sondern Gründe wie Motivation oder der Eindruck, dass es den Schüler_innen besonders gut tun würde, an einem solchen Projekt teilzunehmen. Dies macht den Selektionsprozess nicht weniger problematisch, da er mit der intransparenten Erfahrung von belohntem Sozialverhalten bzw. diagnostizierter Bedürftigkeit eine pastoral-disziplinierende Dimension beinhaltet.

In Bezug auf die gemachte Setzung der Migrantenjungendlichen distanzierten sich der Projektleiter und die Autorin im Telefongespräch deutlich von reduzierenden Zuschreibungen. Klaus Komatz formulierte, das Projekt habe gezeigt, dass es sich bei den Jugendlichen schlussendlich um Berliner_innen handle und sie die gleichen Themen betreffen wie andere Jugendliche auch. Es ginge dem Archiv daher nicht «um die Vorführung von Exotik», diese gäbe es zum Teil gar nicht.18 Gleichzeitig beharrte Anja Tuckermann auf der Anerkennung der Chancenunterschiede und der Tatsache, dass migrantische Jugendliche es bedeutend schwerer haben als die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft. Der sich allein aus zwei Telefongesprächen ergebende Diskurs, der durch die Arbeit an dem Projekt unmittelbar ausgelöst wurde, blieb aber in der Repräsentationen des Projektes nach aussen unsichtbar.19 Ebenso wurde in keiner Dokumentation explizit darauf verwiesen, dass es sich nicht ausschliesslich um Jugendliche mit Migrationshintergrund handelte. Die Transparentmachung dieser Details hätte auch im Kontext des Trägers «Vielfalt tut gut» zu einer wesentlich differenzierteren und nicht harmonisierenden Betrachtung der  Integrationsthematik geführt. Das Projekt hätte sein Potential entlang dieser Diskrepanzen entfalten können – insbesondere durch die Einbeziehung der Jugendlichen in die Debatte um diese Fragestellungen.

Umsetzung

Wie lange dauerte die Zusammenarbeit?

Das Projekt vermittelt den Eindruck einer längerfristigen Zusammenarbeit. An keiner Stelle wird erwähnt, dass es sich bei der Schreib- und Fotowerkstatt um einen einwöchigen Workshop handelte. Diese Tatsache relativiert das Projekt bedeutend, denn es stellt sich die Frage nach der Kohärenz zwischen Prozess und Output. Inwieweit ist es adäquat, eine fünftägige Auseinandersetzung mit Literatur und Fotografie in eine medienwirksame Wanderausstellung zu übersetzen? Zwar sind nach Aussagen der Autorin die Schüler_innen für die Lesungen, den Fanzine-Workshop und für die Ausstellung selbst immer mal wieder zusammen gekommen, die eigentliche Arbeit aber, die in den unterschiedlichen Formaten (Lesung, Ausstellung, Publikationen) präsentiert wurde, entstand im Rahmen einer Woche.

Transparenz

Wie wurde das Projektziel an die Teilnehmenden vermittelt? Wussten die Jugendlichen, in welchem Kontext die Projektarbeit stattfindet?

Die Projektteilnehmenden wurden nicht mit dem Projektziel oder dem Anliegen des Projektträgers konfrontiert, sondern lediglich mit der Aufgabe des Schreibens und Fotografierens betraut. Aus der Perspektive von Anja Tuckermann resultierte das vor allem auch aus der eigenen Distanzierung zu der Initiative des Trägers selbst. Diese Auslassung im Projektkontext verhindert aber eine Auseinandersetzung mit Fragen, die diese Distanz hervorgebracht haben.

Laut Klaus Komatz wussten die Jugendlichen um den Kontext des Projektes, schliesslich, so Komatz «wurde dieser in allen Publikationen [Website, Flyer, etc.] vermittelt.» Wie gut die Jugendlichen vorab über den Zusammenhang informiert waren, konnte somit nicht abschliessend geklärt werden.

Beteiligungsgrade

Inwiefern waren die Jugendlichen in die Ausstellungskonzeption und -gestaltung involviert? Inwieweit nahmen sie Einfluss/bestimmten sie die Auswahl der Fotos/Texte, die in die verschiedenen Medien einflossen?

Während der Projektleiter sich zunächst nicht sicher schien, was die Frage nach dem Einbezug der Jugendlichen betraf, waren diese schliesslich «auch wenn es schwierig war» in die Ausstellungsgestaltung involviert. Dies steht im Widerspruch zu den Aussagen von Anja Tuckermann, die die Ausstellungskonzeption bei sich und den mitarbeitenden Künstler_innen verortete. Tuckermann wies dabei darauf hin, dass die Arbeit mit den Jugendlichen Einfluss auf die Gestaltung der Ausstellung genommen hat, diese demzufolge indirekt beteiligt waren. Auch die Auswahl der Fotos wurde laut Tuckermann von dem Fotografen Jörg Metzner vorgenommen. Begründet wurde die Entscheidung gegen eine Einbindung der Jugendlichen mit der Schwierigkeit, eine solche Aufgabe ohne die notwendige Erfahrung zu bewältigen.

Diese Aussagen stehen in starkem Widerspruch zum Projektansatz, da die partizipatorische Anlage des Projektes an der entscheidenden Stelle der Mitgestaltung in Bezug auf Selbstrepräsentation und Darstellung gewendet wird und in das klassische Hierarchiegefüge zurückfällt. Damit lassen sich die beschriebenen Auslassungen auf zwei Ebenen fokussieren:

Schulhausroman

Obwohl die Dokumentation des Projekts «Schulhausroman» sehr umfassend ist, lässt auch sie einige Fragen unbeantwortet. Entsprechend wurden auch hier Gespräche mit den Projektinitiator_innen geführt, die Aussagen über die allgemein zugängliche Dokumentation des Projekts hinaus ermöglichen. Es wurden zudem Gespräche mit ehemaligen Beteiligten des Projekts geführt, die eine weitere Perspektive auf das Projekt gewähren.

Wie gestaltet sich der Schreibprozess konkret? Unklar bleibt die Form der allgemeinen Ausgestaltung der Arbeit vor Ort – werden Unterrichtsstunden für das Projekt freigegeben? Findet eine Rückkopplung in den Unterricht statt? Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit konkret? Was passiert im Fall von Konflikten bei der kollektiven Arbeit? Inwieweit geben im kollektiven Arbeitsprozess im Klassenverband letztendlich doch die guten Schüler_innen die Entscheidungen vor?

Die Lehrpersonen werden nicht direkt an dem Prozess beteiligt, stehen aber in einem engen Austausch mit den Autor_innen. Dies ist für die Involvierten besonders dann wichtig, wenn Gewalterfahrungen oder andere persönliche Details über den Schreibprozess zu Tage treten, die weitere Handlungen erfordern. Die Autor_innen verfügen im Rahmen des Projekts über die Entscheidungsmacht und bestimmen den Verlauf und die Entwicklung des Projekts. Das Schreiben selbst wird nicht ausschliesslich von den Schüler_innen selbst vollzogen, sondern entsteht eher durch die mündlichen Erzählungen im Klassenverband, die von den Autor_innen zu einem Text zusammengefasst werden, der beim Folgetermin gemeinsam gelesen wird. An diesem Prozess werden alle Schüler_innen beteiligt. In kleinen Gruppen entwickeln sie ihre Protagonist_innen weiter.

Nach welchen Kriterien werden die Schüler_innen ausgewählt, die die Texte in den Literaturinstitutionen lesen?


Schulhausroman-Lesung Literaturhaus Zürich, Foto: Iren Stehli
© Provinz GmbH

Im Gegensatz zur Beteiligung aller Schüler_innen am Schreibprozess erschliesst sich aus der Darstellung des Projekts nicht, welche Schüler_innen an den Lesungen in den Literaturhäusern oder Kulturinstitutionen teilnehmen. Nach Aussagen von ehemaligen Schüler_innen kommen nicht alle Beteiligten zu diesen Lesungen, sondern lediglich eine Auswahl.20 Dies ist darin begründet, dass bei einer Lesung mehrere Romane gelesen werden und entsprechend weitere Schulen beteiligt werden. Hier stellt sich die Frage nach den Kriterien für die Auswahl der Vorlesenden. Aus den Gesprächen mit ehemaligen Projektbeteiligten lässt sich die Auswahl der Vorleser_innen nicht ableiten. Einige vermuten freiwillige Bereitschaft und sicheres Auftreten als Voraussetzung. Die beschriebenen Auslassungen für den «Schulhausroman» lassen sich wie folgt zusammenfassen: